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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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XXII. Aberglauben. Wahrsagen.

Viele Siamesen sollen ein hohes Alter erreichen. Bei Krank-
heiten, die meist Dämonen zur Last gelegt werden, kommen mehr
Zauberformeln in Anwendung als Arzneimittel; oft sieht man auf
dem Menam niedlich aufgeputzte mit Leckereien und Blumen ge-
füllte Kästchen heruntertreiben, in welche die Angehörigen eines
Kranken den Kobold unter allerlei höflichen Beschwörungen com-
plimentirt haben, in der Hoffnung, er werde den Rückweg ver-
gessen. -- Die Ueberfülle des Aberglaubens in Siam ist wohl theils
im Volkscharakter, theils im Zusammenfluss so vieler verschiedener
Stämme begründet. Die indischen Brahminen, die Malayen, Chine-
sen und die Nachbarvölker der hinterindischen Halbinsel haben
jedes ihre eigenen Mährchen mitgebracht, die in der Phantasiewelt
des entarteten Buddismus üppig fortwuchern und von den Bonzen
schlau benutzt werden. Die Hofastrologen und königlichen Wahr-
sager scheinen jene Brahminen zu sein, die beim Palaste des Ersten
Königs ihren Tempel haben; sie fungiren bei der Krönung und
anderen wichtigen Ceremonieen und werden in jeder wichtigen An-
gelegenheit befragt, sollen aber zuweilen auch Schläge bekommen,
wenn sie falsch gerathen haben. -- Das Volk befragt die Bonzen
und Zauberer bei Krankheiten, Diebstählen und anderen Verlusten,
beim Glücksspiel und jeder Gelegenheit; für Hochzeit, Haarbeschnei-
dung und Reisen müssen sie die glücklichen Tage, beim Hausbau die
beste Richtung für Thür und Fenster erforschen. Die Zahl der Zim-
mer, Oeffnungen und Treppenstufen muss immer ungrade sein; Teka-
Stämme, das beste Bauholz, dürfen nicht zu Pfosten verwendet wer-
den. Man glaubt an Zaubermittel, die ganze Familien in Erstarrung
bannen und den Dieben leichtes Spiel geben, an Liebestränke, Mittel zu
Unverwundbarkeit und jeden erdenklichen Unsinn. Bei Ueberschwem-
mungen werden grosse Processionen auf dem Flusse veranstaltet, den
die Bonzen unter heftigen Beschwörungen zu bannen suchen; die Cho-
lera mussten einst Bonzen auf Befehl des Königs den Fluss hinab in das
Meer hinausjagen, was die meisten mit dem Leben gebüsst haben sollen.

Nach altem Brauch wurden beim Bau von Stadt- und
Festungsthoren Sclaven geopfert76), ebenso beim Vergraben von

76) Pallegoix hat davon in Briefen der Jesuiten und in den siamesischen Annalen
gelesen, will aber die Wahrheit nicht verbürgen. -- Mrs. Leonowens erzählt, dass
König Maha-monkut beim Bau eines Thores drei Männer habe aufgreifen und ent-
haupten lassen, nachdem er sie bei glänzendem Gastmahl ermahnt hätte, als Schutz-
engel das Thor treulich zu hüten und jede drohende Gefahr zu melden. -- Man
darf trotzdem daran zweifeln, dass dieser blutige Gebrauch noch heut im Schwange ist.
XXII. Aberglauben. Wahrsagen.

Viele Siamesen sollen ein hohes Alter erreichen. Bei Krank-
heiten, die meist Dämonen zur Last gelegt werden, kommen mehr
Zauberformeln in Anwendung als Arzneimittel; oft sieht man auf
dem Menam niedlich aufgeputzte mit Leckereien und Blumen ge-
füllte Kästchen heruntertreiben, in welche die Angehörigen eines
Kranken den Kobold unter allerlei höflichen Beschwörungen com-
plimentirt haben, in der Hoffnung, er werde den Rückweg ver-
gessen. — Die Ueberfülle des Aberglaubens in Siam ist wohl theils
im Volkscharakter, theils im Zusammenfluss so vieler verschiedener
Stämme begründet. Die indischen Brahminen, die Malayen, Chine-
sen und die Nachbarvölker der hinterindischen Halbinsel haben
jedes ihre eigenen Mährchen mitgebracht, die in der Phantasiewelt
des entarteten Buddismus üppig fortwuchern und von den Bonzen
schlau benutzt werden. Die Hofastrologen und königlichen Wahr-
sager scheinen jene Brahminen zu sein, die beim Palaste des Ersten
Königs ihren Tempel haben; sie fungiren bei der Krönung und
anderen wichtigen Ceremonieen und werden in jeder wichtigen An-
gelegenheit befragt, sollen aber zuweilen auch Schläge bekommen,
wenn sie falsch gerathen haben. — Das Volk befragt die Bonzen
und Zauberer bei Krankheiten, Diebstählen und anderen Verlusten,
beim Glücksspiel und jeder Gelegenheit; für Hochzeit, Haarbeschnei-
dung und Reisen müssen sie die glücklichen Tage, beim Hausbau die
beste Richtung für Thür und Fenster erforschen. Die Zahl der Zim-
mer, Oeffnungen und Treppenstufen muss immer ungrade sein; Teka-
Stämme, das beste Bauholz, dürfen nicht zu Pfosten verwendet wer-
den. Man glaubt an Zaubermittel, die ganze Familien in Erstarrung
bannen und den Dieben leichtes Spiel geben, an Liebestränke, Mittel zu
Unverwundbarkeit und jeden erdenklichen Unsinn. Bei Ueberschwem-
mungen werden grosse Processionen auf dem Flusse veranstaltet, den
die Bonzen unter heftigen Beschwörungen zu bannen suchen; die Cho-
lera mussten einst Bonzen auf Befehl des Königs den Fluss hinab in das
Meer hinausjagen, was die meisten mit dem Leben gebüsst haben sollen.

Nach altem Brauch wurden beim Bau von Stadt- und
Festungsthoren Sclaven geopfert76), ebenso beim Vergraben von

76) Pallégoix hat davon in Briefen der Jesuiten und in den siamesischen Annalen
gelesen, will aber die Wahrheit nicht verbürgen. — Mrs. Leonowens erzählt, dass
König Maha-moṅkut beim Bau eines Thores drei Männer habe aufgreifen und ent-
haupten lassen, nachdem er sie bei glänzendem Gastmahl ermahnt hätte, als Schutz-
engel das Thor treulich zu hüten und jede drohende Gefahr zu melden. — Man
darf trotzdem daran zweifeln, dass dieser blutige Gebrauch noch heut im Schwange ist.
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[333/0347] XXII. Aberglauben. Wahrsagen. Viele Siamesen sollen ein hohes Alter erreichen. Bei Krank- heiten, die meist Dämonen zur Last gelegt werden, kommen mehr Zauberformeln in Anwendung als Arzneimittel; oft sieht man auf dem Menam niedlich aufgeputzte mit Leckereien und Blumen ge- füllte Kästchen heruntertreiben, in welche die Angehörigen eines Kranken den Kobold unter allerlei höflichen Beschwörungen com- plimentirt haben, in der Hoffnung, er werde den Rückweg ver- gessen. — Die Ueberfülle des Aberglaubens in Siam ist wohl theils im Volkscharakter, theils im Zusammenfluss so vieler verschiedener Stämme begründet. Die indischen Brahminen, die Malayen, Chine- sen und die Nachbarvölker der hinterindischen Halbinsel haben jedes ihre eigenen Mährchen mitgebracht, die in der Phantasiewelt des entarteten Buddismus üppig fortwuchern und von den Bonzen schlau benutzt werden. Die Hofastrologen und königlichen Wahr- sager scheinen jene Brahminen zu sein, die beim Palaste des Ersten Königs ihren Tempel haben; sie fungiren bei der Krönung und anderen wichtigen Ceremonieen und werden in jeder wichtigen An- gelegenheit befragt, sollen aber zuweilen auch Schläge bekommen, wenn sie falsch gerathen haben. — Das Volk befragt die Bonzen und Zauberer bei Krankheiten, Diebstählen und anderen Verlusten, beim Glücksspiel und jeder Gelegenheit; für Hochzeit, Haarbeschnei- dung und Reisen müssen sie die glücklichen Tage, beim Hausbau die beste Richtung für Thür und Fenster erforschen. Die Zahl der Zim- mer, Oeffnungen und Treppenstufen muss immer ungrade sein; Teka- Stämme, das beste Bauholz, dürfen nicht zu Pfosten verwendet wer- den. Man glaubt an Zaubermittel, die ganze Familien in Erstarrung bannen und den Dieben leichtes Spiel geben, an Liebestränke, Mittel zu Unverwundbarkeit und jeden erdenklichen Unsinn. Bei Ueberschwem- mungen werden grosse Processionen auf dem Flusse veranstaltet, den die Bonzen unter heftigen Beschwörungen zu bannen suchen; die Cho- lera mussten einst Bonzen auf Befehl des Königs den Fluss hinab in das Meer hinausjagen, was die meisten mit dem Leben gebüsst haben sollen. Nach altem Brauch wurden beim Bau von Stadt- und Festungsthoren Sclaven geopfert 76), ebenso beim Vergraben von 76) Pallégoix hat davon in Briefen der Jesuiten und in den siamesischen Annalen gelesen, will aber die Wahrheit nicht verbürgen. — Mrs. Leonowens erzählt, dass König Maha-moṅkut beim Bau eines Thores drei Männer habe aufgreifen und ent- haupten lassen, nachdem er sie bei glänzendem Gastmahl ermahnt hätte, als Schutz- engel das Thor treulich zu hüten und jede drohende Gefahr zu melden. — Man darf trotzdem daran zweifeln, dass dieser blutige Gebrauch noch heut im Schwange ist.

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/347>, abgerufen am 25.11.2024.