Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Südliche Alpenthäler. Jugendträume. -- Bald ist der erste Ort erreicht. Die dickenSteinmauern und die kleinen Fensteröffnungen erzählen, daß hier der Winter noch lange und strenge sein Recht geltend mache, wäh¬ rend es doch so fröhlich sommerlich, so freundlich warm und lebens¬ durstig gegen die öden Paßhöhen aussieht. Die Leute unterm Splügen, auf der Südseite, haben darum eine solche Thalstrecke "Campo dolcino", das liebliche Feld, genannt, während es Dem¬ jenigen, der aus Italien heraufsteigt, schon recht unfreundlich und indolcino vorkommt. Was aber ists gegen die nächste Thalstrecke? wie schwillt und quillt da die Vegetation, wie treibts da in jeder Pflanze, -- wie wird Alles so massig, behäbig und voll! -- Das ist eben ein in unverhältnißmäßigen Progressionen wachsendes Na¬ turleben, das uns hellauf aus jedem Strauch, jedem Baum, jeder Gruppe anlacht. Droben waren unsere Augen arme, dürftige Hungerleider, Schmalköstlinge geworden; nun sie nur etwas be¬ scheidene Nahrung bekommen, schwelgen sie schon lustig und voll Freude. Gehts doch dem armen Mann im Leben eben so, der nur an Entbehrung und Sorgen gewöhnt, sich plötzlich zu einem Krösus gehoben wähnt, wenn er einmal ein Goldstück als Eigen¬ thum in seiner Hand hält. -- Aber nur Geduld, wir sollen noch an den Tisch des reichen Mannes, an die luxuriös besetzte Tafel des Verschwenders geführt werden. (Ad. Stoeber.) Wie erst die Thalsperren la Cluse am Großen Bernhard und Südliche Alpenthäler. Jugendträume. — Bald iſt der erſte Ort erreicht. Die dickenSteinmauern und die kleinen Fenſteröffnungen erzählen, daß hier der Winter noch lange und ſtrenge ſein Recht geltend mache, wäh¬ rend es doch ſo fröhlich ſommerlich, ſo freundlich warm und lebens¬ durſtig gegen die öden Paßhöhen ausſieht. Die Leute unterm Splügen, auf der Südſeite, haben darum eine ſolche Thalſtrecke „Campo dolcino“, das liebliche Feld, genannt, während es Dem¬ jenigen, der aus Italien heraufſteigt, ſchon recht unfreundlich und indolcino vorkommt. Was aber iſts gegen die nächſte Thalſtrecke? wie ſchwillt und quillt da die Vegetation, wie treibts da in jeder Pflanze, — wie wird Alles ſo maſſig, behäbig und voll! — Das iſt eben ein in unverhältnißmäßigen Progreſſionen wachſendes Na¬ turleben, das uns hellauf aus jedem Strauch, jedem Baum, jeder Gruppe anlacht. Droben waren unſere Augen arme, dürftige Hungerleider, Schmalköſtlinge geworden; nun ſie nur etwas be¬ ſcheidene Nahrung bekommen, ſchwelgen ſie ſchon luſtig und voll Freude. Gehts doch dem armen Mann im Leben eben ſo, der nur an Entbehrung und Sorgen gewöhnt, ſich plötzlich zu einem Kröſus gehoben wähnt, wenn er einmal ein Goldſtück als Eigen¬ thum in ſeiner Hand hält. — Aber nur Geduld, wir ſollen noch an den Tiſch des reichen Mannes, an die luxuriös beſetzte Tafel des Verſchwenders geführt werden. (Ad. Stoeber.) Wie erſt die Thalſperren la Cluſe am Großen Bernhard und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0134" n="108"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Südliche Alpenthäler</hi>.<lb/></fw> Jugendträume. — Bald iſt der erſte Ort erreicht. Die dicken<lb/> Steinmauern und die kleinen Fenſteröffnungen erzählen, daß hier<lb/> der Winter noch lange und ſtrenge ſein Recht geltend mache, wäh¬<lb/> rend es doch ſo fröhlich ſommerlich, ſo freundlich warm und lebens¬<lb/> durſtig gegen die öden Paßhöhen ausſieht. 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Südliche Alpenthäler.
Jugendträume. — Bald iſt der erſte Ort erreicht. Die dicken
Steinmauern und die kleinen Fenſteröffnungen erzählen, daß hier
der Winter noch lange und ſtrenge ſein Recht geltend mache, wäh¬
rend es doch ſo fröhlich ſommerlich, ſo freundlich warm und lebens¬
durſtig gegen die öden Paßhöhen ausſieht. Die Leute unterm
Splügen, auf der Südſeite, haben darum eine ſolche Thalſtrecke
„Campo dolcino“, das liebliche Feld, genannt, während es Dem¬
jenigen, der aus Italien heraufſteigt, ſchon recht unfreundlich und
indolcino vorkommt. Was aber iſts gegen die nächſte Thalſtrecke?
wie ſchwillt und quillt da die Vegetation, wie treibts da in jeder
Pflanze, — wie wird Alles ſo maſſig, behäbig und voll! — Das
iſt eben ein in unverhältnißmäßigen Progreſſionen wachſendes Na¬
turleben, das uns hellauf aus jedem Strauch, jedem Baum, jeder
Gruppe anlacht. Droben waren unſere Augen arme, dürftige
Hungerleider, Schmalköſtlinge geworden; nun ſie nur etwas be¬
ſcheidene Nahrung bekommen, ſchwelgen ſie ſchon luſtig und voll
Freude. Gehts doch dem armen Mann im Leben eben ſo, der
nur an Entbehrung und Sorgen gewöhnt, ſich plötzlich zu einem
Kröſus gehoben wähnt, wenn er einmal ein Goldſtück als Eigen¬
thum in ſeiner Hand hält. — Aber nur Geduld, wir ſollen noch
an den Tiſch des reichen Mannes, an die luxuriös beſetzte Tafel
des Verſchwenders geführt werden.
Denn weiter ſtets mit jedem Schritte
Taucht eine neue Welt hervor:
Ein andres Volk und andre Sitte,
Ein Gartenland mit reichem Flor.
Als wärs ein Vorbot des Sirocco,
Weht heiß der Mittagswind herauf,
Und überm Thale von Miſocco
Geht ſchon Italiens Himmel auf.
(Ad. Stoeber.)
Wie erſt die Thalſperren la Cluſe am Großen Bernhard und
von Dazio Grande am Gotthard, oder der Ruinen-Riegel von
Miſox unterm Bernhardin und die Thalſtufe von Stozzo am Splü¬
gen überwunden ſind, — (allenthalben natürliche Gränzen der vom
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