Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Wasserfall. mit allen seinen Konfigurationen. Ja, die Wassertropfen vereisenoft schon im Sturze, wenn es recht bitter kalt ist, fallen rasch zu Boden und experimentiren augenscheinlich die Bildung des Hagels vor unseren Augen. Zunächst an der Fluh, droben beim Ausfall des getheilten Baches, erwachsen allmählig zwei ungeheuere Eis¬ säulen wie nach den Gesetzen der im Feenreiche geltenden Baukunst, die in die freien Lüfte hinaus ihre Säulen und Schlösser kon¬ struirt. Reißen dann beide, durch die Schwere des eigenen Ge¬ wichtes gedrängt, oder durch laue Südwinde in ihrer stützenden Basis untergraben, urplötzlich ab, so krachen sie mit solcher Vehe¬ menz auf den Gletscher im Kessel, daß Alles rundum erzittert und ein Erdbeben hereinzubrechen scheint. Von größter Wirkung ists, wenn beide Säulen zugleich einstürzen, und ergötzlich ist die immer¬ währende Regenerirung dieser Atlas-Pilaster, sobald neue Fröste eintreten. Wie aber im Frühling, besonders im Mai, die warmen Lüfte mächtiger werden, schmilzt auch der Eishügel im Kessel mit sichtbarer Eile zusammen und löst sich -- wie bei den Gletschern -- zuerst an der Felsenwand ab, so daß sich zwischen den Eismassen und dem Gestein eine furchtbare Kluft öffnet, deren Tiefe schon oft gegen 70 Fuß maß. Noch bis in die Hälfte des Monats Juni hinein erhalten sich Reste dieser winterlichen Erstarrung. Oft entsteht ein wunderschönes azurfarbenes Portal, durch welches das geschmolzene Wasser abfließt, ganz wie bei den Gletschern, oder das herabstürzende Wasser bohrt sich zugleich vermöge seines größe¬ ren Wärmegehaltes einen vertikalen Schlot, der in den Eisschacht ausmündet. Auch hier erzeugt die hineinscheinende Sonne wieder Farbengaukeleien, die unvergleichlich in ihrer Art sind. Diesem heiteren und ungefährlichen Anblicke steht die Wuth Brüllend, mächtig angeschwollen und vom Schlamm der auf¬ Der Waſſerfall. mit allen ſeinen Konfigurationen. Ja, die Waſſertropfen vereiſenoft ſchon im Sturze, wenn es recht bitter kalt iſt, fallen raſch zu Boden und experimentiren augenſcheinlich die Bildung des Hagels vor unſeren Augen. Zunächſt an der Fluh, droben beim Ausfall des getheilten Baches, erwachſen allmählig zwei ungeheuere Eis¬ ſäulen wie nach den Geſetzen der im Feenreiche geltenden Baukunſt, die in die freien Lüfte hinaus ihre Säulen und Schlöſſer kon¬ ſtruirt. Reißen dann beide, durch die Schwere des eigenen Ge¬ wichtes gedrängt, oder durch laue Südwinde in ihrer ſtützenden Baſis untergraben, urplötzlich ab, ſo krachen ſie mit ſolcher Vehe¬ menz auf den Gletſcher im Keſſel, daß Alles rundum erzittert und ein Erdbeben hereinzubrechen ſcheint. Von größter Wirkung iſts, wenn beide Säulen zugleich einſtürzen, und ergötzlich iſt die immer¬ währende Regenerirung dieſer Atlas-Pilaſter, ſobald neue Fröſte eintreten. Wie aber im Frühling, beſonders im Mai, die warmen Lüfte mächtiger werden, ſchmilzt auch der Eishügel im Keſſel mit ſichtbarer Eile zuſammen und löſt ſich — wie bei den Gletſchern — zuerſt an der Felſenwand ab, ſo daß ſich zwiſchen den Eismaſſen und dem Geſtein eine furchtbare Kluft öffnet, deren Tiefe ſchon oft gegen 70 Fuß maß. Noch bis in die Hälfte des Monats Juni hinein erhalten ſich Reſte dieſer winterlichen Erſtarrung. Oft entſteht ein wunderſchönes azurfarbenes Portal, durch welches das geſchmolzene Waſſer abfließt, ganz wie bei den Gletſchern, oder das herabſtürzende Waſſer bohrt ſich zugleich vermöge ſeines größe¬ ren Wärmegehaltes einen vertikalen Schlot, der in den Eisſchacht ausmündet. Auch hier erzeugt die hineinſcheinende Sonne wieder Farbengaukeleien, die unvergleichlich in ihrer Art ſind. 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Der Waſſerfall.
mit allen ſeinen Konfigurationen. Ja, die Waſſertropfen vereiſen
oft ſchon im Sturze, wenn es recht bitter kalt iſt, fallen raſch zu
Boden und experimentiren augenſcheinlich die Bildung des Hagels
vor unſeren Augen. Zunächſt an der Fluh, droben beim Ausfall
des getheilten Baches, erwachſen allmählig zwei ungeheuere Eis¬
ſäulen wie nach den Geſetzen der im Feenreiche geltenden Baukunſt,
die in die freien Lüfte hinaus ihre Säulen und Schlöſſer kon¬
ſtruirt. Reißen dann beide, durch die Schwere des eigenen Ge¬
wichtes gedrängt, oder durch laue Südwinde in ihrer ſtützenden
Baſis untergraben, urplötzlich ab, ſo krachen ſie mit ſolcher Vehe¬
menz auf den Gletſcher im Keſſel, daß Alles rundum erzittert und
ein Erdbeben hereinzubrechen ſcheint. Von größter Wirkung iſts,
wenn beide Säulen zugleich einſtürzen, und ergötzlich iſt die immer¬
währende Regenerirung dieſer Atlas-Pilaſter, ſobald neue Fröſte
eintreten. Wie aber im Frühling, beſonders im Mai, die warmen
Lüfte mächtiger werden, ſchmilzt auch der Eishügel im Keſſel mit
ſichtbarer Eile zuſammen und löſt ſich — wie bei den Gletſchern —
zuerſt an der Felſenwand ab, ſo daß ſich zwiſchen den Eismaſſen
und dem Geſtein eine furchtbare Kluft öffnet, deren Tiefe ſchon
oft gegen 70 Fuß maß. Noch bis in die Hälfte des Monats
Juni hinein erhalten ſich Reſte dieſer winterlichen Erſtarrung. Oft
entſteht ein wunderſchönes azurfarbenes Portal, durch welches das
geſchmolzene Waſſer abfließt, ganz wie bei den Gletſchern, oder
das herabſtürzende Waſſer bohrt ſich zugleich vermöge ſeines größe¬
ren Wärmegehaltes einen vertikalen Schlot, der in den Eisſchacht
ausmündet. Auch hier erzeugt die hineinſcheinende Sonne wieder
Farbengaukeleien, die unvergleichlich in ihrer Art ſind.
Dieſem heiteren und ungefährlichen Anblicke ſteht die Wuth
des Baches am Tage hereinbrechender und über die Höhen des
Pletſchberges ſich ausgießender Gewitter furchtbar gegenüber.
Brüllend, mächtig angeſchwollen und vom Schlamm der auf¬
gelöſten Erde ſchwarz gefärbt, ſchießt dann der Strom in zwei
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