Reiche Fülle der Natur! Labyrinth zu neuem Leben! Kürzend tausend Wege tausendfach, Ueberall belebend, allbelebt.
Herder.
Auf Hochgebirgswanderungen begegnet man nicht selten ziem¬ lich ausgedehnten Schneeflecken, die schon von ferne durch ihre unverkennbar rothe oder gelbröthliche Färbung den Blick auf sich ziehen und in der Nähe aussehen, als ob rother Wein in unge¬ messener Menge über den Firn ausgeschüttet worden sei. Der Volksglaube, dessen geflügelte Phantasie in jede außergewöhnliche, dem Alltagsverstande nicht sofort entzifferbare Erscheinung das Mysteriöse, Geisterhafte hineinträgt, sah auch in diesem fremdarti¬ gen Naturprodukte die körperhafte Kundgebung schauerlich-geheimni߬ voller Mächte; es waren Fußstapfen der rächenden Nemesis, sicht¬ bare Zeichen der Vergeltung, der göttlichen Strafe, für einst be¬ gangene ungerechte Thaten, und der Aelpler registrirte den rothen Schnee in das Archiv seiner Sagenwelt. Ungetreue Säumer, die mit ihren Saumrossen feuerige italienische Weine, namentlich den dunkelrothen Pulsstürmer aus dem Veltlin, über die Alpen trans¬ portiren, hätten hier (so glaubte man) von Trunksucht übermannt,
Berlepsch, die Alpen. 12
Rother Schnee.
Reiche Fülle der Natur! Labyrinth zu neuem Leben! Kürzend tauſend Wege tauſendfach, Ueberall belebend, allbelebt.
Herder.
Auf Hochgebirgswanderungen begegnet man nicht ſelten ziem¬ lich ausgedehnten Schneeflecken, die ſchon von ferne durch ihre unverkennbar rothe oder gelbröthliche Färbung den Blick auf ſich ziehen und in der Nähe ausſehen, als ob rother Wein in unge¬ meſſener Menge über den Firn ausgeſchüttet worden ſei. Der Volksglaube, deſſen geflügelte Phantaſie in jede außergewöhnliche, dem Alltagsverſtande nicht ſofort entzifferbare Erſcheinung das Myſteriöſe, Geiſterhafte hineinträgt, ſah auch in dieſem fremdarti¬ gen Naturprodukte die körperhafte Kundgebung ſchauerlich-geheimni߬ voller Mächte; es waren Fußſtapfen der rächenden Nemeſis, ſicht¬ bare Zeichen der Vergeltung, der göttlichen Strafe, für einſt be¬ gangene ungerechte Thaten, und der Aelpler regiſtrirte den rothen Schnee in das Archiv ſeiner Sagenwelt. Ungetreue Säumer, die mit ihren Saumroſſen feuerige italieniſche Weine, namentlich den dunkelrothen Pulsſtürmer aus dem Veltlin, über die Alpen trans¬ portiren, hätten hier (ſo glaubte man) von Trunkſucht übermannt,
Berlepſch, die Alpen. 12
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[0205]
Rother Schnee .
Reiche Fülle der Natur!
Labyrinth zu neuem Leben!
Kürzend tauſend Wege tauſendfach,
Ueberall belebend, allbelebt.
Herder.
Auf Hochgebirgswanderungen begegnet man nicht ſelten ziem¬
lich ausgedehnten Schneeflecken, die ſchon von ferne durch ihre
unverkennbar rothe oder gelbröthliche Färbung den Blick auf ſich
ziehen und in der Nähe ausſehen, als ob rother Wein in unge¬
meſſener Menge über den Firn ausgeſchüttet worden ſei. Der
Volksglaube, deſſen geflügelte Phantaſie in jede außergewöhnliche,
dem Alltagsverſtande nicht ſofort entzifferbare Erſcheinung das
Myſteriöſe, Geiſterhafte hineinträgt, ſah auch in dieſem fremdarti¬
gen Naturprodukte die körperhafte Kundgebung ſchauerlich-geheimni߬
voller Mächte; es waren Fußſtapfen der rächenden Nemeſis, ſicht¬
bare Zeichen der Vergeltung, der göttlichen Strafe, für einſt be¬
gangene ungerechte Thaten, und der Aelpler regiſtrirte den rothen
Schnee in das Archiv ſeiner Sagenwelt. Ungetreue Säumer, die
mit ihren Saumroſſen feuerige italieniſche Weine, namentlich den
dunkelrothen Pulsſtürmer aus dem Veltlin, über die Alpen trans¬
portiren, hätten hier (ſo glaubte man) von Trunkſucht übermannt,
Berlepſch, die Alpen. 12
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/205>, abgerufen am 24.11.2024.
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