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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Die Lauiue.
des Tavetsch schneiden im Spätsommer droben in den Regionen,
wo der stammförmige Baumwuchs bereits aufgehört hat, das Busch¬
werk der Alpen-Erle an minder geneigten Halden ab, binden
Faschinen daraus und legen diese in die Lauinenzüge, um die
Fallkraft der zum Sturz geneigten Schneemassen in ihrem zer¬
störenden Effekt zu schwächen. Die auf solche Weise von der
Lauine mit zu Thal hinabgerissenen Bündel braucht der Aelpler
nicht herabzutragen oder zu schlitten; er nimmt sie, wenn der
Sturzschnee im Hochsommer vollends drunten zergangen ist, als
Brennreisig aus dem wüsten Schutthaufen,
Wo gehüllt in graue Laken
Schlafend die Lauinen liegen, --
heraus, und weiß dergestalt sogar die ihm feindliche Kraft-Aeußerung
sich dienstbar zu machen. Eine Sturzbahn der Lauine durch Menschen¬
hand vorzeichnen zu wollen, würde ein ohnmächtiges Bestreben sein.

Da man also die Verwüstungs-Züge kennt, (welche meist recht¬
winkelig zur Thalsohle einmünden), -- da der Aelpler an der
Form und Richtung der Wolken, an der Durchsichtigkeit der Atmo¬
sphäre, aus dem Abbröckeln der kleinen Schneegarnituren von
den oberen vertikal-ausgekehlten Felsgesimsen die Lufttemperatur in der
Höhe und deren ungefähren Wärmegehalt vom Thale aus beurtheilen
kann, so fällt es ihm, gestützt auf Erfahrungs-Normen, auch nicht
schwer, die Zeit zu berechnen, binnen welcher die Grund-Lauinen
anbrechen müssen; hiernach kann er seine Vorsichtsmaßregeln ein¬
richten. Denn gar viele Lauinenzüge durchkreuzen stark began¬
gene Thalwege und machen die Passage in den Frühjahrsmonaten
höchst gefährlich; so z. B. in den bewohnten Walliser und Urner
Seitenthälern, alle jene Stellen auf den Kunststraßen der Alpen,
wo Galerien angebracht sind, -- auch einzelne Stellen in frequenten
Thälern, durch welche Poststraßen führen, wie z. B. im Grau¬
bündner Oberhalbstein, im Engadin, in vielen Thälern Savoyens
u. s. w. Außerordentlich übelberüchtiget in dieser Beziehung ist

Die Lauiue.
des Tavetſch ſchneiden im Spätſommer droben in den Regionen,
wo der ſtammförmige Baumwuchs bereits aufgehört hat, das Buſch¬
werk der Alpen-Erle an minder geneigten Halden ab, binden
Faſchinen daraus und legen dieſe in die Lauinenzüge, um die
Fallkraft der zum Sturz geneigten Schneemaſſen in ihrem zer¬
ſtörenden Effekt zu ſchwächen. Die auf ſolche Weiſe von der
Lauine mit zu Thal hinabgeriſſenen Bündel braucht der Aelpler
nicht herabzutragen oder zu ſchlitten; er nimmt ſie, wenn der
Sturzſchnee im Hochſommer vollends drunten zergangen iſt, als
Brennreiſig aus dem wüſten Schutthaufen,
Wo gehüllt in graue Laken
Schlafend die Lauinen liegen, —
heraus, und weiß dergeſtalt ſogar die ihm feindliche Kraft-Aeußerung
ſich dienſtbar zu machen. Eine Sturzbahn der Lauine durch Menſchen¬
hand vorzeichnen zu wollen, würde ein ohnmächtiges Beſtreben ſein.

Da man alſo die Verwüſtungs-Züge kennt, (welche meiſt recht¬
winkelig zur Thalſohle einmünden), — da der Aelpler an der
Form und Richtung der Wolken, an der Durchſichtigkeit der Atmo¬
ſphäre, aus dem Abbröckeln der kleinen Schneegarnituren von
den oberen vertikal-ausgekehlten Felsgeſimſen die Lufttemperatur in der
Höhe und deren ungefähren Wärmegehalt vom Thale aus beurtheilen
kann, ſo fällt es ihm, geſtützt auf Erfahrungs-Normen, auch nicht
ſchwer, die Zeit zu berechnen, binnen welcher die Grund-Lauinen
anbrechen müſſen; hiernach kann er ſeine Vorſichtsmaßregeln ein¬
richten. Denn gar viele Lauinenzüge durchkreuzen ſtark began¬
gene Thalwege und machen die Paſſage in den Frühjahrsmonaten
höchſt gefährlich; ſo z. B. in den bewohnten Walliſer und Urner
Seitenthälern, alle jene Stellen auf den Kunſtſtraßen der Alpen,
wo Galerien angebracht ſind, — auch einzelne Stellen in frequenten
Thälern, durch welche Poſtſtraßen führen, wie z. B. im Grau¬
bündner Oberhalbſtein, im Engadin, in vielen Thälern Savoyens
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[204/0234] Die Lauiue. des Tavetſch ſchneiden im Spätſommer droben in den Regionen, wo der ſtammförmige Baumwuchs bereits aufgehört hat, das Buſch¬ werk der Alpen-Erle an minder geneigten Halden ab, binden Faſchinen daraus und legen dieſe in die Lauinenzüge, um die Fallkraft der zum Sturz geneigten Schneemaſſen in ihrem zer¬ ſtörenden Effekt zu ſchwächen. Die auf ſolche Weiſe von der Lauine mit zu Thal hinabgeriſſenen Bündel braucht der Aelpler nicht herabzutragen oder zu ſchlitten; er nimmt ſie, wenn der Sturzſchnee im Hochſommer vollends drunten zergangen iſt, als Brennreiſig aus dem wüſten Schutthaufen, Wo gehüllt in graue Laken Schlafend die Lauinen liegen, — heraus, und weiß dergeſtalt ſogar die ihm feindliche Kraft-Aeußerung ſich dienſtbar zu machen. Eine Sturzbahn der Lauine durch Menſchen¬ hand vorzeichnen zu wollen, würde ein ohnmächtiges Beſtreben ſein. Da man alſo die Verwüſtungs-Züge kennt, (welche meiſt recht¬ winkelig zur Thalſohle einmünden), — da der Aelpler an der Form und Richtung der Wolken, an der Durchſichtigkeit der Atmo¬ ſphäre, aus dem Abbröckeln der kleinen Schneegarnituren von den oberen vertikal-ausgekehlten Felsgeſimſen die Lufttemperatur in der Höhe und deren ungefähren Wärmegehalt vom Thale aus beurtheilen kann, ſo fällt es ihm, geſtützt auf Erfahrungs-Normen, auch nicht ſchwer, die Zeit zu berechnen, binnen welcher die Grund-Lauinen anbrechen müſſen; hiernach kann er ſeine Vorſichtsmaßregeln ein¬ richten. Denn gar viele Lauinenzüge durchkreuzen ſtark began¬ gene Thalwege und machen die Paſſage in den Frühjahrsmonaten höchſt gefährlich; ſo z. B. in den bewohnten Walliſer und Urner Seitenthälern, alle jene Stellen auf den Kunſtſtraßen der Alpen, wo Galerien angebracht ſind, — auch einzelne Stellen in frequenten Thälern, durch welche Poſtſtraßen führen, wie z. B. im Grau¬ bündner Oberhalbſtein, im Engadin, in vielen Thälern Savoyens u. ſ. w. Außerordentlich übelberüchtiget in dieſer Beziehung iſt

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/234>, abgerufen am 24.11.2024.