Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Alpenglühen. Schultern sehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬tenden Silbergewande die majestätische Jungfrau mit ihrem Tra¬ banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endlose Zacken- und Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬ ten bestimmt, durch scharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬ zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerschau über die Veteranen der Berner Alpen. Noch strömt warmes Leben durch das majestätische Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten von Grindelwald heimelig in den Kessel gebettet liegen, ist der Abend eingezogen und hat seinen blauen Friedensschleier über das Lütschinen-Thal geworfen. Jetzt ein Blick mehr westlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird Alpenglühen. Schultern ſehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬tenden Silbergewande die majeſtätiſche Jungfrau mit ihrem Tra¬ banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endloſe Zacken- und Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬ ten beſtimmt, durch ſcharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬ zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerſchau über die Veteranen der Berner Alpen. Noch ſtrömt warmes Leben durch das majeſtätiſche Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten von Grindelwald heimelig in den Keſſel gebettet liegen, iſt der Abend eingezogen und hat ſeinen blauen Friedensſchleier über das Lütſchinen-Thal geworfen. Jetzt ein Blick mehr weſtlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0272" n="240"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpenglühen</hi>.<lb/></fw> Schultern ſehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬<lb/> tenden Silbergewande die majeſtätiſche Jungfrau mit ihrem Tra¬<lb/> banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endloſe Zacken- und<lb/> Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬<lb/> ten beſtimmt, durch ſcharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬<lb/> zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerſchau<lb/> über die Veteranen der Berner Alpen. Noch ſtrömt warmes Leben<lb/> durch das majeſtätiſche Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten<lb/> von Grindelwald heimelig in den Keſſel gebettet liegen, iſt der<lb/> Abend eingezogen und hat ſeinen blauen Friedensſchleier über das<lb/> Lütſchinen-Thal geworfen.</p><lb/> <p>Jetzt ein Blick mehr weſtlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird<lb/> ſchwankend; der rein-blaue Aether verliert die Intenſität ſeiner<lb/> beſtimmten Färbung, welche die Konturen der Schneegipfel ſo ſcharf<lb/> und lineal-begränzt ablöſt, — er geht allmählig in ein indifferen¬<lb/> tes, zwiſchen bläulichen (alſo rein durchſichtigen) und gelblich-ange¬<lb/> hauchten Strahlenbrechungen ſchwankendes Luftfluidum über. Die¬<lb/> ſes aber reflektirt mittelbar wieder auf die unter ſolchem Horizont<lb/> liegenden Alpen der Wild- und Oldenhorn-Gruppe und auf die<lb/> Berge des Engſtligen- und Kien-Thales, ſo daß das Intereſſe für<lb/> dieſe Parthie ſehr geſchwächt wird. — Noch weiter rechts ſinkt das<lb/> Auge hinab auf die glitzernde Fläche des Thuner Sees, hinter dem<lb/> die Frutiger- und Simmenthaler Alpen mit dem geradlinigen, ſchö¬<lb/> nen Eckpfeiler des Nieſen aufſteigen. Immer mehr gehen die Maſſen<lb/> leicht verſchwimmend in einander über; warmer, leuchtender Abend¬<lb/> nebelrauch, hellokerfarbene Sonnendämpfe hüllen die Höhenzüge<lb/> ein, ſo daß die Umriſſe der einander vorliegenden Bergkouliſſen<lb/> kaum mehr zu unterſcheiden ſind. Je mehr und mehr der Blick<lb/> weiter ſchweift, deſto undeutlicher zerfließen alle landſchaftlichen Ge¬<lb/> bilde; ein glänzender, goldener Dunſt-Ocean hat Alles verſchlungen,<lb/> und ſonnentrunken badet das wellenförmige Mittelland und der<lb/> ferne Jura in ſeinen weichen Wellen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [240/0272]
Alpenglühen.
Schultern ſehend die Schnee-Kapuze des Mönches; und nun im leuch¬
tenden Silbergewande die majeſtätiſche Jungfrau mit ihrem Tra¬
banten-Heer, weit hinein rechts, das ganze endloſe Zacken- und
Klippen-Gewirr der Gränz-Alpen gen Wallis! Alle Gruppen tre¬
ten beſtimmt, durch ſcharf gezeichnete Linien getrennt, aus dem Gan¬
zen hervor; mit einem großen, vollen Blick halten wir Heerſchau
über die Veteranen der Berner Alpen. Noch ſtrömt warmes Leben
durch das majeſtätiſche Rundbild. Nur drunten, wo die Hütten
von Grindelwald heimelig in den Keſſel gebettet liegen, iſt der
Abend eingezogen und hat ſeinen blauen Friedensſchleier über das
Lütſchinen-Thal geworfen.
Jetzt ein Blick mehr weſtlich. Der Beleuchtungs-Effekt wird
ſchwankend; der rein-blaue Aether verliert die Intenſität ſeiner
beſtimmten Färbung, welche die Konturen der Schneegipfel ſo ſcharf
und lineal-begränzt ablöſt, — er geht allmählig in ein indifferen¬
tes, zwiſchen bläulichen (alſo rein durchſichtigen) und gelblich-ange¬
hauchten Strahlenbrechungen ſchwankendes Luftfluidum über. Die¬
ſes aber reflektirt mittelbar wieder auf die unter ſolchem Horizont
liegenden Alpen der Wild- und Oldenhorn-Gruppe und auf die
Berge des Engſtligen- und Kien-Thales, ſo daß das Intereſſe für
dieſe Parthie ſehr geſchwächt wird. — Noch weiter rechts ſinkt das
Auge hinab auf die glitzernde Fläche des Thuner Sees, hinter dem
die Frutiger- und Simmenthaler Alpen mit dem geradlinigen, ſchö¬
nen Eckpfeiler des Nieſen aufſteigen. Immer mehr gehen die Maſſen
leicht verſchwimmend in einander über; warmer, leuchtender Abend¬
nebelrauch, hellokerfarbene Sonnendämpfe hüllen die Höhenzüge
ein, ſo daß die Umriſſe der einander vorliegenden Bergkouliſſen
kaum mehr zu unterſcheiden ſind. Je mehr und mehr der Blick
weiter ſchweift, deſto undeutlicher zerfließen alle landſchaftlichen Ge¬
bilde; ein glänzender, goldener Dunſt-Ocean hat Alles verſchlungen,
und ſonnentrunken badet das wellenförmige Mittelland und der
ferne Jura in ſeinen weichen Wellen.
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