Die eigentlichen und für die Bergsteigung inkonvenabelsten Firnschründe sind jedoch jene, welche am Fuße hoher Felsenkämme vorkommen, von denen die Firnhalden steil abfallen. Indeß umgeben sie auch die meisten Berggipfel und ahmen deren Figuration in entsprechenden Konturen nach. Hat ein Berg mehrere Schneeterrassen, so zeigt er auch meist in der Nähe jeder Terrasse einen Bergschrund, und ein Gipfel kann deren zwei bis drei haben. Zuweilen, wenn sehr reich¬ lich Schnee fällt, wird der Bergschrund von Lauinen ausgefüllt, und aus diesem Grunde sind schneereiche Jahre den Ersteigungen der Hochgipfel sehr günstig. --
Die größte zu überwindende Schwierigkeit besteht gewöhnlich darin, daß die gegenüberstehende Schnee- oder Eis-Wand bedeu¬ tend höher als der diesseitige Standpunkt ist. Haben die Führer sich nun auf solche Fälle vorbereitet, und eine Leiter mitgenommen, dann ist die Kluft in der Regel leicht zu passiren; eine solche Lei¬ ter besteht aus einer etwa 20 Fuß langen, armsdicken, zähen Stange, durch welche Quer-Sprossen oder Pflöcke getrieben sind, die als Tritte dienen. Aber nicht selten tritt der Fall ein, daß eine Berg- Expedition auf andere Weise sich zu helfen suchen muß, und da fördert dann die alle Gefahr verachtende Keckheit mitunter recht waghalsige Versuche zu Tage. Einige der interessantesten erzählt Herr G. Studer. Als er bei seiner, mit Herrn Weilenmann, Ende August 1856 unternommenen Ersteigung des Mont Velan (11588 Fuß, Walliser Alpen) den Glacier de Proz überschritten hatte, war am Fuße eines mächtigen Felsenpfeilers, der direkt gegen die höchste Kuppe des Berges aus dem Firn aufsteigt, ein klaffender Berg¬ schrund zu passiren. Die Führer Andreas Dorsat und Pierre Morey überschritten die Eiskluft an der schmalsten Stelle mit ver¬ wegener Gewandtheit und kletterten an der gegenüberstehenden Eis¬ wand bis zu einem, durch vorragende gewaltige Blöcke gesicher¬ ten Standpunkte hinauf. Von hier warfen sie das eine Seil-Ende herab. Herr Weilenmann war der Erste, der die schwindelige As¬
Die eigentlichen und für die Bergſteigung inkonvenabelſten Firnſchründe ſind jedoch jene, welche am Fuße hoher Felſenkämme vorkommen, von denen die Firnhalden ſteil abfallen. Indeß umgeben ſie auch die meiſten Berggipfel und ahmen deren Figuration in entſprechenden Konturen nach. Hat ein Berg mehrere Schneeterraſſen, ſo zeigt er auch meiſt in der Nähe jeder Terraſſe einen Bergſchrund, und ein Gipfel kann deren zwei bis drei haben. Zuweilen, wenn ſehr reich¬ lich Schnee fällt, wird der Bergſchrund von Lauinen ausgefüllt, und aus dieſem Grunde ſind ſchneereiche Jahre den Erſteigungen der Hochgipfel ſehr günſtig. —
Die größte zu überwindende Schwierigkeit beſteht gewöhnlich darin, daß die gegenüberſtehende Schnee- oder Eis-Wand bedeu¬ tend höher als der diesſeitige Standpunkt iſt. Haben die Führer ſich nun auf ſolche Fälle vorbereitet, und eine Leiter mitgenommen, dann iſt die Kluft in der Regel leicht zu paſſiren; eine ſolche Lei¬ ter beſteht aus einer etwa 20 Fuß langen, armsdicken, zähen Stange, durch welche Quer-Sproſſen oder Pflöcke getrieben ſind, die als Tritte dienen. Aber nicht ſelten tritt der Fall ein, daß eine Berg- Expedition auf andere Weiſe ſich zu helfen ſuchen muß, und da fördert dann die alle Gefahr verachtende Keckheit mitunter recht waghalſige Verſuche zu Tage. Einige der intereſſanteſten erzählt Herr G. Studer. Als er bei ſeiner, mit Herrn Weilenmann, Ende Auguſt 1856 unternommenen Erſteigung des Mont Velan (11588 Fuß, Walliſer Alpen) den Glacier de Proz überſchritten hatte, war am Fuße eines mächtigen Felſenpfeilers, der direkt gegen die höchſte Kuppe des Berges aus dem Firn aufſteigt, ein klaffender Berg¬ ſchrund zu paſſiren. Die Führer Andreas Dorſat und Pierre Morey überſchritten die Eiskluft an der ſchmalſten Stelle mit ver¬ wegener Gewandtheit und kletterten an der gegenüberſtehenden Eis¬ wand bis zu einem, durch vorragende gewaltige Blöcke geſicher¬ ten Standpunkte hinauf. Von hier warfen ſie das eine Seil-Ende herab. Herr Weilenmann war der Erſte, der die ſchwindelige As¬
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Die eigentlichen und für die Bergſteigung inkonvenabelſten Firnſchründe
ſind jedoch jene, welche am Fuße hoher Felſenkämme vorkommen, von
denen die Firnhalden ſteil abfallen. Indeß umgeben ſie auch die
meiſten Berggipfel und ahmen deren Figuration in entſprechenden
Konturen nach. Hat ein Berg mehrere Schneeterraſſen, ſo zeigt er
auch meiſt in der Nähe jeder Terraſſe einen Bergſchrund, und ein
Gipfel kann deren zwei bis drei haben. Zuweilen, wenn ſehr reich¬
lich Schnee fällt, wird der Bergſchrund von Lauinen ausgefüllt,
und aus dieſem Grunde ſind ſchneereiche Jahre den Erſteigungen
der Hochgipfel ſehr günſtig. —
Die größte zu überwindende Schwierigkeit beſteht gewöhnlich
darin, daß die gegenüberſtehende Schnee- oder Eis-Wand bedeu¬
tend höher als der diesſeitige Standpunkt iſt. Haben die Führer
ſich nun auf ſolche Fälle vorbereitet, und eine Leiter mitgenommen,
dann iſt die Kluft in der Regel leicht zu paſſiren; eine ſolche Lei¬
ter beſteht aus einer etwa 20 Fuß langen, armsdicken, zähen Stange,
durch welche Quer-Sproſſen oder Pflöcke getrieben ſind, die als
Tritte dienen. Aber nicht ſelten tritt der Fall ein, daß eine Berg-
Expedition auf andere Weiſe ſich zu helfen ſuchen muß, und da
fördert dann die alle Gefahr verachtende Keckheit mitunter recht
waghalſige Verſuche zu Tage. Einige der intereſſanteſten erzählt
Herr G. Studer. Als er bei ſeiner, mit Herrn Weilenmann, Ende
Auguſt 1856 unternommenen Erſteigung des Mont Velan (11588
Fuß, Walliſer Alpen) den Glacier de Proz überſchritten hatte, war
am Fuße eines mächtigen Felſenpfeilers, der direkt gegen die höchſte
Kuppe des Berges aus dem Firn aufſteigt, ein klaffender Berg¬
ſchrund zu paſſiren. Die Führer Andreas Dorſat und Pierre
Morey überſchritten die Eiskluft an der ſchmalſten Stelle mit ver¬
wegener Gewandtheit und kletterten an der gegenüberſtehenden Eis¬
wand bis zu einem, durch vorragende gewaltige Blöcke geſicher¬
ten Standpunkte hinauf. Von hier warfen ſie das eine Seil-Ende
herab. Herr Weilenmann war der Erſte, der die ſchwindelige As¬
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/295>, abgerufen am 24.11.2024.
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