Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Alpenspitzen.
rühmten Botaniker und Monographen dieses kolossalen Bergstockes,
hätte beinahe eine solche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte,
von sechs Reisegefährten und Führern begleitet, am 12. August 1822
den dritten Versuch zur Ersteigung des Tödi. In jener Schreckens¬
runse angekommen, standen bereits drei Personen der Expedition
völlig gesichert unter dem Schutze überhangender Felsen, und die
Führer waren eben beschäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬
fährlichste Stelle dieser Todesschlucht zu geleiten, da dröhnte es
donnernd durch die Einöde. Tosend und dröhnend jagte ein Glet¬
schersturz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Angst¬
ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegeriesel von allen Seiten,
dann schreckliche Todesstille für ein paar Augenblicke! Nun rauschte
es wieder stärker; in Schneegestöber, wie in Rauch gehüllt,
fuhren kleine Eisstücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬
rade auf die darin Weilenden zu. Da diese sich dicht an die
Felsenwand schmiegten und anklammerten, so ging der Strom über
sie ohne bedeutende Beschädigung hinweg. In stummer, gräßlich
peinlicher Angst verharrten die gesichert Stehenden noch ein paar
bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich
zurufend, erkannten sich die Geretteten. Die Gletscherstücke waren
durch den tiefen Sturz völlig zersplittert und zermalmt und dadurch
fast unschädlich geworden.

Das Schreckens-Arsenal der Hochgebirgs-Phänomene ist aber noch
lange nicht erschöpft. Je mehr wir uns den ersehnten Gipfelpunkten
nähern, desto mehr häuft sich die Summe der Fährlichkeiten und
Hindernisse. Zunächst hat man die weit überhangenden "Schnee-
Weheten
" zu fürchten, welche über oft schauerlich tiefen Abgründen
an den mehrere taufend Fuß senkrecht absinkenden Felsenfronten der
Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügerische Vorsprünge hinaus¬
bauen, die jeder mechanischen Stütze entbehren; nur durch den Frost-
Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬
renz der Schneeflocken werden sie gehalten und getragen. Ein gering¬

Alpenſpitzen.
rühmten Botaniker und Monographen dieſes koloſſalen Bergſtockes,
hätte beinahe eine ſolche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte,
von ſechs Reiſegefährten und Führern begleitet, am 12. Auguſt 1822
den dritten Verſuch zur Erſteigung des Tödi. In jener Schreckens¬
runſe angekommen, ſtanden bereits drei Perſonen der Expedition
völlig geſichert unter dem Schutze überhangender Felſen, und die
Führer waren eben beſchäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬
fährlichſte Stelle dieſer Todesſchlucht zu geleiten, da dröhnte es
donnernd durch die Einöde. Toſend und dröhnend jagte ein Glet¬
ſcherſturz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Angſt¬
ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegerieſel von allen Seiten,
dann ſchreckliche Todesſtille für ein paar Augenblicke! Nun rauſchte
es wieder ſtärker; in Schneegeſtöber, wie in Rauch gehüllt,
fuhren kleine Eisſtücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬
rade auf die darin Weilenden zu. Da dieſe ſich dicht an die
Felſenwand ſchmiegten und anklammerten, ſo ging der Strom über
ſie ohne bedeutende Beſchädigung hinweg. In ſtummer, gräßlich
peinlicher Angſt verharrten die geſichert Stehenden noch ein paar
bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich
zurufend, erkannten ſich die Geretteten. Die Gletſcherſtücke waren
durch den tiefen Sturz völlig zerſplittert und zermalmt und dadurch
faſt unſchädlich geworden.

Das Schreckens-Arſenal der Hochgebirgs-Phänomene iſt aber noch
lange nicht erſchöpft. Je mehr wir uns den erſehnten Gipfelpunkten
nähern, deſto mehr häuft ſich die Summe der Fährlichkeiten und
Hinderniſſe. Zunächſt hat man die weit überhangenden „Schnee-
Weheten
“ zu fürchten, welche über oft ſchauerlich tiefen Abgründen
an den mehrere taufend Fuß ſenkrecht abſinkenden Felſenfronten der
Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügeriſche Vorſprünge hinaus¬
bauen, die jeder mechaniſchen Stütze entbehren; nur durch den Froſt-
Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬
renz der Schneeflocken werden ſie gehalten und getragen. Ein gering¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0303" n="269"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Alpen&#x017F;pitzen</hi>.<lb/></fw>rühmten Botaniker und Monographen die&#x017F;es kolo&#x017F;&#x017F;alen Berg&#x017F;tockes,<lb/>
hätte beinahe eine &#x017F;olche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte,<lb/>
von &#x017F;echs Rei&#x017F;egefährten und Führern begleitet, am 12. Augu&#x017F;t 1822<lb/>
den dritten Ver&#x017F;uch zur Er&#x017F;teigung des Tödi. In jener Schreckens¬<lb/>
run&#x017F;e angekommen, &#x017F;tanden bereits drei Per&#x017F;onen der Expedition<lb/>
völlig ge&#x017F;ichert unter dem Schutze überhangender Fel&#x017F;en, und die<lb/>
Führer waren eben be&#x017F;chäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬<lb/>
fährlich&#x017F;te Stelle die&#x017F;er Todes&#x017F;chlucht zu geleiten, da dröhnte es<lb/>
donnernd durch die Einöde. To&#x017F;end und dröhnend jagte ein Glet¬<lb/>
&#x017F;cher&#x017F;turz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Ang&#x017F;<lb/>
ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegerie&#x017F;el von allen Seiten,<lb/>
dann &#x017F;chreckliche Todes&#x017F;tille für ein paar Augenblicke! Nun rau&#x017F;chte<lb/>
es wieder &#x017F;tärker; in Schneege&#x017F;töber, wie in Rauch gehüllt,<lb/>
fuhren kleine Eis&#x017F;tücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬<lb/>
rade auf die darin Weilenden zu. Da die&#x017F;e &#x017F;ich dicht an die<lb/>
Fel&#x017F;enwand &#x017F;chmiegten und anklammerten, &#x017F;o ging der Strom über<lb/>
&#x017F;ie ohne bedeutende Be&#x017F;chädigung hinweg. In &#x017F;tummer, gräßlich<lb/>
peinlicher Ang&#x017F;t verharrten die ge&#x017F;ichert Stehenden noch ein paar<lb/>
bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich<lb/>
zurufend, erkannten &#x017F;ich die Geretteten. Die Glet&#x017F;cher&#x017F;tücke waren<lb/>
durch den tiefen Sturz völlig zer&#x017F;plittert und zermalmt und dadurch<lb/>
fa&#x017F;t un&#x017F;chädlich geworden.</p><lb/>
        <p>Das Schreckens-Ar&#x017F;enal der Hochgebirgs-Phänomene i&#x017F;t aber noch<lb/>
lange nicht er&#x017F;chöpft. Je mehr wir uns den er&#x017F;ehnten Gipfelpunkten<lb/>
nähern, de&#x017F;to mehr häuft &#x017F;ich die Summe der Fährlichkeiten und<lb/>
Hinderni&#x017F;&#x017F;e. Zunäch&#x017F;t hat man die weit überhangenden &#x201E;<hi rendition="#g">Schnee-<lb/>
Weheten</hi>&#x201C; zu fürchten, welche über oft &#x017F;chauerlich tiefen Abgründen<lb/>
an den mehrere taufend Fuß &#x017F;enkrecht ab&#x017F;inkenden Fel&#x017F;enfronten der<lb/>
Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügeri&#x017F;che Vor&#x017F;prünge hinaus¬<lb/>
bauen, die jeder mechani&#x017F;chen Stütze entbehren; nur durch den Fro&#x017F;t-<lb/>
Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬<lb/>
renz der Schneeflocken werden &#x017F;ie gehalten und getragen. Ein gering¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[269/0303] Alpenſpitzen. rühmten Botaniker und Monographen dieſes koloſſalen Bergſtockes, hätte beinahe eine ſolche Schmetter-Kanonade zermalmt. Er wagte, von ſechs Reiſegefährten und Führern begleitet, am 12. Auguſt 1822 den dritten Verſuch zur Erſteigung des Tödi. In jener Schreckens¬ runſe angekommen, ſtanden bereits drei Perſonen der Expedition völlig geſichert unter dem Schutze überhangender Felſen, und die Führer waren eben beſchäftigt, den Letzten am Seil durch die ge¬ fährlichſte Stelle dieſer Todesſchlucht zu geleiten, da dröhnte es donnernd durch die Einöde. Toſend und dröhnend jagte ein Glet¬ ſcherſturz aus jener Höhe des eisbeladenen Grates herab. Angſt¬ ruf der Führer erfüllte die Luft; Schneegerieſel von allen Seiten, dann ſchreckliche Todesſtille für ein paar Augenblicke! Nun rauſchte es wieder ſtärker; in Schneegeſtöber, wie in Rauch gehüllt, fuhren kleine Eisſtücke in den Abgrund und durch die Schlucht ge¬ rade auf die darin Weilenden zu. Da dieſe ſich dicht an die Felſenwand ſchmiegten und anklammerten, ſo ging der Strom über ſie ohne bedeutende Beſchädigung hinweg. In ſtummer, gräßlich peinlicher Angſt verharrten die geſichert Stehenden noch ein paar bange Augenblicke; da hörte der Strom auf und einander fröhlich zurufend, erkannten ſich die Geretteten. Die Gletſcherſtücke waren durch den tiefen Sturz völlig zerſplittert und zermalmt und dadurch faſt unſchädlich geworden. Das Schreckens-Arſenal der Hochgebirgs-Phänomene iſt aber noch lange nicht erſchöpft. Je mehr wir uns den erſehnten Gipfelpunkten nähern, deſto mehr häuft ſich die Summe der Fährlichkeiten und Hinderniſſe. Zunächſt hat man die weit überhangenden „Schnee- Weheten“ zu fürchten, welche über oft ſchauerlich tiefen Abgründen an den mehrere taufend Fuß ſenkrecht abſinkenden Felſenfronten der Alpen auffallend breite, hohl gewölbte, trügeriſche Vorſprünge hinaus¬ bauen, die jeder mechaniſchen Stütze entbehren; nur durch den Froſt- Verband der ineinander verflochtenen Eisnädelchen, durch die Kohä¬ renz der Schneeflocken werden ſie gehalten und getragen. Ein gering¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/303
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/303>, abgerufen am 24.11.2024.