Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Alpenspitzen. gen, hochaufgerichtet stolzen, aus der großen Menge bedeutsam her¬vortretenden, silbergescheitelten Greisen, auf denen es sinnend haf¬ tet: es kennt sie, ohne sofort sie zu erkennen, Karte, Fernrohr und Führer kommen dem suchenden Gedächtniß zu Hilfe! -- "Ah! Grüß Gott, lieber Alter! Du auch da! Wie ganz anders siehst Du von hier aus? Ich habe Dir immer von anderer Seite in Dein ernstes Antlitz geschaut, wie Du Deinen versteinerten Träumen nach¬ sinnst, und heute schaust Du mich nur verstohlen über die Schul¬ tern an!" -- So schweift der Blick in flüchtiger Rundreise immer weiter über die Zacken und Zinken des Riesenreliefs, gleitet hinab zu heimelig eingebetteten Thalspalten, und überspringt glitzernde Flußadern, bis er beim Ausgangspunkte wieder anlangt, um nach diesem orientirenden Fluge in die Special-Musterung einzutreten. -- Und vollends jenes erbebende Gefühl, wenn es ein Gipfel ist, den nur höchst selten oder zuvor noch nie eines Menschen Fuß betrat; dies ist dann eine Inauguration, erhabener, großarti¬ ger, als jede andere, durch Menschen-Sinn und Hand bereitete. Warum läuft durch alle Zeitungen die Nachricht, wenn endlich eine, der ganzen gebildeten Welt längst bekannte, schon unendlich oft auf Karten und Panoramen gezeichnete, in Büchern genannte Al¬ penspitze von Bedeutung zum Erstenmal erstiegen wurde? Weil es eine kleine Kolumbus-That ist, weil die kühnen Männer einen Bau¬ stein zum großen Tempelheiligthume der Naturwissenschaften hinzu¬ fügten. -- Alle Schrecken und Bedrängnisse sind vergessen, die Gletscherspalten und Firnschründe mit ihren trügerischen Brücken, der schwindelstarre Abgrund und die weichenden Trümmerhalden liegen als überwundene Feinde hinter uns, und jauchzend hebt sich das Herz und klopft mächtiger in seines Gottes größerer Nähe. Wie aber mag dieser Gefühlssturm sich erst steigern, wenn, wie 18*
Alpenſpitzen. gen, hochaufgerichtet ſtolzen, aus der großen Menge bedeutſam her¬vortretenden, ſilbergeſcheitelten Greiſen, auf denen es ſinnend haf¬ tet: es kennt ſie, ohne ſofort ſie zu erkennen, Karte, Fernrohr und Führer kommen dem ſuchenden Gedächtniß zu Hilfe! — „Ah! Grüß Gott, lieber Alter! Du auch da! Wie ganz anders ſiehst Du von hier aus? Ich habe Dir immer von anderer Seite in Dein ernſtes Antlitz geſchaut, wie Du Deinen verſteinerten Träumen nach¬ ſinnst, und heute ſchauſt Du mich nur verſtohlen über die Schul¬ tern an!“ — So ſchweift der Blick in flüchtiger Rundreiſe immer weiter über die Zacken und Zinken des Rieſenreliefs, gleitet hinab zu heimelig eingebetteten Thalſpalten, und überſpringt glitzernde Flußadern, bis er beim Ausgangspunkte wieder anlangt, um nach dieſem orientirenden Fluge in die Special-Muſterung einzutreten. — Und vollends jenes erbebende Gefühl, wenn es ein Gipfel iſt, den nur höchſt ſelten oder zuvor noch nie eines Menſchen Fuß betrat; dies iſt dann eine Inauguration, erhabener, großarti¬ ger, als jede andere, durch Menſchen-Sinn und Hand bereitete. Warum läuft durch alle Zeitungen die Nachricht, wenn endlich eine, der ganzen gebildeten Welt längſt bekannte, ſchon unendlich oft auf Karten und Panoramen gezeichnete, in Büchern genannte Al¬ penſpitze von Bedeutung zum Erſtenmal erſtiegen wurde? Weil es eine kleine Kolumbus-That iſt, weil die kühnen Männer einen Bau¬ ſtein zum großen Tempelheiligthume der Naturwiſſenſchaften hinzu¬ fügten. — Alle Schrecken und Bedrängniſſe ſind vergeſſen, die Gletſcherſpalten und Firnſchründe mit ihren trügeriſchen Brücken, der ſchwindelſtarre Abgrund und die weichenden Trümmerhalden liegen als überwundene Feinde hinter uns, und jauchzend hebt ſich das Herz und klopft mächtiger in ſeines Gottes größerer Nähe. Wie aber mag dieſer Gefühlsſturm ſich erſt ſteigern, wenn, wie 18*
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Alpenſpitzen.
gen, hochaufgerichtet ſtolzen, aus der großen Menge bedeutſam her¬
vortretenden, ſilbergeſcheitelten Greiſen, auf denen es ſinnend haf¬
tet: es kennt ſie, ohne ſofort ſie zu erkennen, Karte, Fernrohr und
Führer kommen dem ſuchenden Gedächtniß zu Hilfe! — „Ah! Grüß
Gott, lieber Alter! Du auch da! Wie ganz anders ſiehst Du
von hier aus? Ich habe Dir immer von anderer Seite in Dein
ernſtes Antlitz geſchaut, wie Du Deinen verſteinerten Träumen nach¬
ſinnst, und heute ſchauſt Du mich nur verſtohlen über die Schul¬
tern an!“ — So ſchweift der Blick in flüchtiger Rundreiſe immer
weiter über die Zacken und Zinken des Rieſenreliefs, gleitet hinab
zu heimelig eingebetteten Thalſpalten, und überſpringt glitzernde
Flußadern, bis er beim Ausgangspunkte wieder anlangt, um nach
dieſem orientirenden Fluge in die Special-Muſterung einzutreten.
— Und vollends jenes erbebende Gefühl, wenn es ein Gipfel iſt,
den nur höchſt ſelten oder zuvor noch nie eines Menſchen
Fuß betrat; dies iſt dann eine Inauguration, erhabener, großarti¬
ger, als jede andere, durch Menſchen-Sinn und Hand bereitete.
Warum läuft durch alle Zeitungen die Nachricht, wenn endlich eine,
der ganzen gebildeten Welt längſt bekannte, ſchon unendlich oft
auf Karten und Panoramen gezeichnete, in Büchern genannte Al¬
penſpitze von Bedeutung zum Erſtenmal erſtiegen wurde? Weil es
eine kleine Kolumbus-That iſt, weil die kühnen Männer einen Bau¬
ſtein zum großen Tempelheiligthume der Naturwiſſenſchaften hinzu¬
fügten. — Alle Schrecken und Bedrängniſſe ſind vergeſſen, die
Gletſcherſpalten und Firnſchründe mit ihren trügeriſchen Brücken,
der ſchwindelſtarre Abgrund und die weichenden Trümmerhalden
liegen als überwundene Feinde hinter uns, und jauchzend hebt ſich
das Herz und klopft mächtiger in ſeines Gottes größerer Nähe.
Wie aber mag dieſer Gefühlsſturm ſich erſt ſteigern, wenn, wie
es bei der erſten Erſteigung des Tödi am 10. Auguſt 1837 der
Fall war, die unerſchrockenen Bergkämpen, längere Zeit im Nebel
berganklimmend, an der Um- und Ausſchau gehindert, plötzlich, wie
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