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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Alpenspitzen.
aber noch tiefer unter seinem Standorte, liegend. Der oben von
zwei Männern gehaltene Strick reicht nicht mehr aus. Der toll¬
kühne Bannholzer bindet sich los und steigt vollends in die eisige
Grabesnacht hinab. Nach banger Pause ertönt sein jauchzender
Ruf aus der Tiefe. Er hatte seine Beute erreicht und kam glücklich
wieder ans Tageslicht. Trotzdem er in einer Tiefe von mindestens
hundert Fuß war, setzte, nach seiner Versicherung, der Bergschrund
noch in unergründliche Tiefen fort.

Es ist ein beneidenswerthes Tagewerk, welches der Naturfreund
vollbracht hat, wenn er am Abend körperlich unverletzt, geistig
gehoben, reich an Erfahrungen und bereichert im Schatze seines
Wissens, drunten in den Hütten der Menschen, ein Gefeierter des
Tages, wieder anlangt; -- es ist ein Genuß und ein Bewußtsein,
dessen nur Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer sich
erfreuen können. Noch nie ist dies Streben schöner und edler
gewürdiget worden als durch Friedr. von Tschudi's Antwort auf die
Frage: Was soll der Mensch da oben? "Es ist das Gefühl geistiger
Kraft, das ihn durchglüht und die todten Schrecken der Materie
zu überwinden treibt; es ist der Reiz, das eigene Menschenvermögen,
das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen
Widerstande des Staubes zu messen; es ist der heilige Trieb, im
Dienste der ewigen Wissenschaft dem Bau und Leben der Erde,
dem geheimnißvollen Zusammenhange alles Geschaffenen nachzu¬
spüren; es ist vielleicht die Sehnsucht des Herrn der Erde, auf
der letzten, überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen
liegenden Welt das Bewußtsein seiner Verwandtschaft mit dem
Unendlichen durch eine einzige, freie That zu besiegeln." --


Alpenſpitzen.
aber noch tiefer unter ſeinem Standorte, liegend. Der oben von
zwei Männern gehaltene Strick reicht nicht mehr aus. Der toll¬
kühne Bannholzer bindet ſich los und ſteigt vollends in die eiſige
Grabesnacht hinab. Nach banger Pauſe ertönt ſein jauchzender
Ruf aus der Tiefe. Er hatte ſeine Beute erreicht und kam glücklich
wieder ans Tageslicht. Trotzdem er in einer Tiefe von mindeſtens
hundert Fuß war, ſetzte, nach ſeiner Verſicherung, der Bergſchrund
noch in unergründliche Tiefen fort.

Es iſt ein beneidenswerthes Tagewerk, welches der Naturfreund
vollbracht hat, wenn er am Abend körperlich unverletzt, geiſtig
gehoben, reich an Erfahrungen und bereichert im Schatze ſeines
Wiſſens, drunten in den Hütten der Menſchen, ein Gefeierter des
Tages, wieder anlangt; — es iſt ein Genuß und ein Bewußtſein,
deſſen nur Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer ſich
erfreuen können. Noch nie iſt dies Streben ſchöner und edler
gewürdiget worden als durch Friedr. von Tſchudi's Antwort auf die
Frage: Was ſoll der Menſch da oben? „Es iſt das Gefühl geiſtiger
Kraft, das ihn durchglüht und die todten Schrecken der Materie
zu überwinden treibt; es iſt der Reiz, das eigene Menſchenvermögen,
das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen
Widerſtande des Staubes zu meſſen; es iſt der heilige Trieb, im
Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde,
dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzu¬
ſpüren; es iſt vielleicht die Sehnſucht des Herrn der Erde, auf
der letzten, überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen
liegenden Welt das Bewußtſein ſeiner Verwandtſchaft mit dem
Unendlichen durch eine einzige, freie That zu beſiegeln.“ —


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[286/0320] Alpenſpitzen. aber noch tiefer unter ſeinem Standorte, liegend. Der oben von zwei Männern gehaltene Strick reicht nicht mehr aus. Der toll¬ kühne Bannholzer bindet ſich los und ſteigt vollends in die eiſige Grabesnacht hinab. Nach banger Pauſe ertönt ſein jauchzender Ruf aus der Tiefe. Er hatte ſeine Beute erreicht und kam glücklich wieder ans Tageslicht. Trotzdem er in einer Tiefe von mindeſtens hundert Fuß war, ſetzte, nach ſeiner Verſicherung, der Bergſchrund noch in unergründliche Tiefen fort. Es iſt ein beneidenswerthes Tagewerk, welches der Naturfreund vollbracht hat, wenn er am Abend körperlich unverletzt, geiſtig gehoben, reich an Erfahrungen und bereichert im Schatze ſeines Wiſſens, drunten in den Hütten der Menſchen, ein Gefeierter des Tages, wieder anlangt; — es iſt ein Genuß und ein Bewußtſein, deſſen nur Wenige von der großen Menge der Alpenwanderer ſich erfreuen können. Noch nie iſt dies Streben ſchöner und edler gewürdiget worden als durch Friedr. von Tſchudi's Antwort auf die Frage: Was ſoll der Menſch da oben? „Es iſt das Gefühl geiſtiger Kraft, das ihn durchglüht und die todten Schrecken der Materie zu überwinden treibt; es iſt der Reiz, das eigene Menſchenvermögen, das unendliche Vermögen des intelligenten Willens an dem rohen Widerſtande des Staubes zu meſſen; es iſt der heilige Trieb, im Dienſte der ewigen Wiſſenſchaft dem Bau und Leben der Erde, dem geheimnißvollen Zuſammenhange alles Geſchaffenen nachzu¬ ſpüren; es iſt vielleicht die Sehnſucht des Herrn der Erde, auf der letzten, überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtſein ſeiner Verwandtſchaft mit dem Unendlichen durch eine einzige, freie That zu beſiegeln.“ —

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/320>, abgerufen am 24.11.2024.