Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Geißbub. Denn wo nur irgend eine grüne Stelle lockt, klettern die Ziegenwie die Schaafe hin, erblicken dann von der Höhe unter sich aber¬ mals neue Rasenbänder und springen von Absatz zu Absatz, oft klafterhoch, hinab, bis sie nicht weiter können. Da wird es dann Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Thier zu lösen. Unser Illustrator Rittmeyer hat auf dem beigegebenen Blatt einen solchen Moment dargestellt. Das ist ganz die zähe, unnachgiebige, störrische Natur eines ächten Vollblut-Geißbuben. Beide, Thier und Knabe, sind wie aus einem Stück gegossen. Droben schweben die Adler, die durch das Klagegeschrei der Ziege aufmerksam gemacht, diese, ohne des Buben Erlösung, durch Flügelschlag in die Tiefe gestürzt und als Beute zerfleischt haben würden. Und kämen sie noch jetzt, eher ließ sich der Bube mit in den Abgrund nieder¬ schmettern, als daß er seine Geißmutsch losließe. Eine Schrot¬ ladung ihm in den Rücken gegeben, würde das hartnäckige, starr¬ sinnige Wesen des Buben nicht brechen. Im Hochgebirge bleiben die Schaafe oft Monate lang sich Der Geißbub. Denn wo nur irgend eine grüne Stelle lockt, klettern die Ziegenwie die Schaafe hin, erblicken dann von der Höhe unter ſich aber¬ mals neue Raſenbänder und ſpringen von Abſatz zu Abſatz, oft klafterhoch, hinab, bis ſie nicht weiter können. Da wird es dann Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Thier zu löſen. Unſer Illuſtrator Rittmeyer hat auf dem beigegebenen Blatt einen ſolchen Moment dargeſtellt. Das iſt ganz die zähe, unnachgiebige, ſtörriſche Natur eines ächten Vollblut-Geißbuben. Beide, Thier und Knabe, ſind wie aus einem Stück gegoſſen. Droben ſchweben die Adler, die durch das Klagegeſchrei der Ziege aufmerkſam gemacht, dieſe, ohne des Buben Erlöſung, durch Flügelſchlag in die Tiefe geſtürzt und als Beute zerfleiſcht haben würden. Und kämen ſie noch jetzt, eher ließ ſich der Bube mit in den Abgrund nieder¬ ſchmettern, als daß er ſeine Geißmutſch losließe. Eine Schrot¬ ladung ihm in den Rücken gegeben, würde das hartnäckige, ſtarr¬ ſinnige Weſen des Buben nicht brechen. Im Hochgebirge bleiben die Schaafe oft Monate lang ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0407" n="367"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Der Geißbub</hi>.<lb/></fw> Denn wo nur irgend eine grüne Stelle lockt, klettern die Ziegen<lb/> wie die Schaafe hin, erblicken dann von der Höhe unter ſich aber¬<lb/> mals neue Raſenbänder und ſpringen von Abſatz zu Abſatz, oft<lb/> klafterhoch, hinab, bis ſie nicht weiter können. Da wird es dann<lb/> Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Thier zu löſen.<lb/> Unſer Illuſtrator Rittmeyer hat auf dem beigegebenen Blatt einen<lb/> ſolchen Moment dargeſtellt. Das iſt ganz die zähe, unnachgiebige,<lb/> ſtörriſche Natur eines ächten Vollblut-Geißbuben. Beide, Thier und<lb/> Knabe, ſind wie aus einem Stück gegoſſen. Droben ſchweben die<lb/> Adler, die durch das Klagegeſchrei der Ziege aufmerkſam gemacht,<lb/> dieſe, ohne des Buben Erlöſung, durch Flügelſchlag in die Tiefe<lb/> geſtürzt und als Beute zerfleiſcht haben würden. Und kämen ſie<lb/> noch jetzt, eher ließ ſich der Bube mit in den Abgrund nieder¬<lb/> ſchmettern, als daß er ſeine Geißmutſch losließe. Eine Schrot¬<lb/> ladung ihm in den Rücken gegeben, würde das hartnäckige, ſtarr¬<lb/> ſinnige Weſen des Buben nicht brechen.</p><lb/> <p>Im Hochgebirge bleiben die Schaafe oft Monate lang ſich<lb/> ſelbſt überlaſſen und nagen die ſporadiſch an den Felſen hangen¬<lb/> den Raſenſtellen ab. Es genügt dann, daß der Eigenthümer vom<lb/> Thal oder von ſeiner Hütte aus (wo er mit dem Großvieh weilt)<lb/> täglich einigemal durchs Fernrohr ſeine Schaafe beobachtet und<lb/> überzählt. Entdeckt er nun, daß ſich einige derſelben verſtiegen<lb/> haben, ſo ſteigt er auf die Höhe des Gebirges, von der aus er<lb/> glaubt ſenkrecht von oben herab den Schaafen beikommen zu können.<lb/> Der Entſchloſſenſte, meiſt ein Bube unſerer Zeichnung, wird dann<lb/> am Seil hinabgelaſſen. Da begegnets denn, daß die Thiere ſcheu<lb/> gemacht durch die von oben herniederſchwebende Erſcheinung, dieſe<lb/> wahrſcheinlich für einen Raubvogel halten, ſich zu flüchten ſuchen,<lb/> und ſämmtlich in den Abgrund ſtürzen. Dann aber kommts auch<lb/> wieder vor, daß man die genaue Richtung verfehlt hat und der<lb/> Bube noch über manches Raſenband, oder längs glatter Felſen¬<lb/> wände, an denen er faſt nur wie eine Schwalbe klebend ſich zu<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [367/0407]
Der Geißbub.
Denn wo nur irgend eine grüne Stelle lockt, klettern die Ziegen
wie die Schaafe hin, erblicken dann von der Höhe unter ſich aber¬
mals neue Raſenbänder und ſpringen von Abſatz zu Abſatz, oft
klafterhoch, hinab, bis ſie nicht weiter können. Da wird es dann
Aufgabe des hütenden Knaben, das gefangene Thier zu löſen.
Unſer Illuſtrator Rittmeyer hat auf dem beigegebenen Blatt einen
ſolchen Moment dargeſtellt. Das iſt ganz die zähe, unnachgiebige,
ſtörriſche Natur eines ächten Vollblut-Geißbuben. Beide, Thier und
Knabe, ſind wie aus einem Stück gegoſſen. Droben ſchweben die
Adler, die durch das Klagegeſchrei der Ziege aufmerkſam gemacht,
dieſe, ohne des Buben Erlöſung, durch Flügelſchlag in die Tiefe
geſtürzt und als Beute zerfleiſcht haben würden. Und kämen ſie
noch jetzt, eher ließ ſich der Bube mit in den Abgrund nieder¬
ſchmettern, als daß er ſeine Geißmutſch losließe. Eine Schrot¬
ladung ihm in den Rücken gegeben, würde das hartnäckige, ſtarr¬
ſinnige Weſen des Buben nicht brechen.
Im Hochgebirge bleiben die Schaafe oft Monate lang ſich
ſelbſt überlaſſen und nagen die ſporadiſch an den Felſen hangen¬
den Raſenſtellen ab. Es genügt dann, daß der Eigenthümer vom
Thal oder von ſeiner Hütte aus (wo er mit dem Großvieh weilt)
täglich einigemal durchs Fernrohr ſeine Schaafe beobachtet und
überzählt. Entdeckt er nun, daß ſich einige derſelben verſtiegen
haben, ſo ſteigt er auf die Höhe des Gebirges, von der aus er
glaubt ſenkrecht von oben herab den Schaafen beikommen zu können.
Der Entſchloſſenſte, meiſt ein Bube unſerer Zeichnung, wird dann
am Seil hinabgelaſſen. Da begegnets denn, daß die Thiere ſcheu
gemacht durch die von oben herniederſchwebende Erſcheinung, dieſe
wahrſcheinlich für einen Raubvogel halten, ſich zu flüchten ſuchen,
und ſämmtlich in den Abgrund ſtürzen. Dann aber kommts auch
wieder vor, daß man die genaue Richtung verfehlt hat und der
Bube noch über manches Raſenband, oder längs glatter Felſen¬
wände, an denen er faſt nur wie eine Schwalbe klebend ſich zu
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