Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Wildheuer.
und ineinandergerechnet vermag jeder Mann täglich wohl einen
Zentner einzubringen. Er verdient damit etwa einen Tagelohn
von 3 bis 4 Franken. Tritt aber stürmisches Wetter ein, weht
der in der Höhe oft wildbrausende Wind das geschnittene Kamm¬
heu über die Wand hinab, dasselbe weit umher zerstreuend, oder
schwemmen brausende Regengüsse dasselbe fort, dann ist freilich
viel Gefahr und mühevolle Arbeit umsonst gewesen. Denn das
Wildheu besteht größtentheils aus zarten, dünnstengeligen, kurzen
Kräutern und Gräsern von ungemein zierlichem Wuchse, eine wahre
Liliputaner-Vegetation, gegenüber dem halmenreichen, hochgeschosse¬
nen, breitblätterigen "Feisthen" der Thalwiesen. Die duftende
Mutteri (Meum mutellina) mit ihren weißen Doldenblüthen
nimmt die vornehmste Stelle unter den Futterpflanzen ein; sie
gilt für das milchergiebigste Alpenkraut, dem das Adelgras oder
Riz (Plantago alpina, Alpenwegerich) an Milchgehalt zunächst
steht. Mit ihnen konkurriren: die flach an den Boden gedrückte
Bergbenedikte (Geum montanum, Bergnelkenwurz) mit breiten,
fingerkrautartigen Blättern und großen rosettirten Goldblüthen, --
das niedliche, weißblumige Alpenmaslieb (Chrysanthemum al¬
pinum
), -- der zierliche Mannsschild (Androsace obtusifolia
und chamaejasme) und das runde Frauenmänteli (Alchemilla
vulgaris
), auch "Thaumänteli" genannt, weil die mittelalterliche
Heilkunst und der Volksglaube dem, auf die nierenförmig-rund¬
lichen, seidenharigen Blätter niedergeschlagenen Thau Wunder¬
kräfte zuschrieb. Dazwischen birgt sich der hygrometrisch-empfind¬
liche Eberwurz (Carlina acaulis), der zwergartige Alpenehren¬
preis
(Veronica alpina), das niedrige, brennendgelb blühende
Fingerkraut (Potentilla aurea), der feingestaltete Alpenschwin¬
gel
(Festuca pumila und nigrescens), der niedliche Felsen-
Windhalm (Agrostis alpina) und die ihrer Nährkraft halber
hochgeschätzte Romeye (Poa alpina, Alpen-Rispengras). Aus
diesem, oft dicht ineinander gefilzten Kräuterrasen erheben sich ferner

Der Wildheuer.
und ineinandergerechnet vermag jeder Mann täglich wohl einen
Zentner einzubringen. Er verdient damit etwa einen Tagelohn
von 3 bis 4 Franken. Tritt aber ſtürmiſches Wetter ein, weht
der in der Höhe oft wildbrauſende Wind das geſchnittene Kamm¬
heu über die Wand hinab, daſſelbe weit umher zerſtreuend, oder
ſchwemmen brauſende Regengüſſe daſſelbe fort, dann iſt freilich
viel Gefahr und mühevolle Arbeit umſonſt geweſen. Denn das
Wildheu beſteht größtentheils aus zarten, dünnſtengeligen, kurzen
Kräutern und Gräſern von ungemein zierlichem Wuchſe, eine wahre
Liliputaner-Vegetation, gegenüber dem halmenreichen, hochgeſchoſſe¬
nen, breitblätterigen „Feiſthen“ der Thalwieſen. Die duftende
Mutteri (Meum mutellina) mit ihren weißen Doldenblüthen
nimmt die vornehmſte Stelle unter den Futterpflanzen ein; ſie
gilt für das milchergiebigſte Alpenkraut, dem das Adelgras oder
Riz (Plantago alpina, Alpenwegerich) an Milchgehalt zunächſt
ſteht. Mit ihnen konkurriren: die flach an den Boden gedrückte
Bergbenedikte (Geum montanum, Bergnelkenwurz) mit breiten,
fingerkrautartigen Blättern und großen roſettirten Goldblüthen, —
das niedliche, weißblumige Alpenmaslieb (Chrysanthemum al¬
pinum
), — der zierliche Mannsſchild (Androsace obtusifolia
und chamaejasme) und das runde Frauenmänteli (Alchemilla
vulgaris
), auch „Thaumänteli“ genannt, weil die mittelalterliche
Heilkunſt und der Volksglaube dem, auf die nierenförmig-rund¬
lichen, ſeidenharigen Blätter niedergeſchlagenen Thau Wunder¬
kräfte zuſchrieb. Dazwiſchen birgt ſich der hygrometriſch-empfind¬
liche Eberwurz (Carlina acaulis), der zwergartige Alpenehren¬
preis
(Veronica alpina), das niedrige, brennendgelb blühende
Fingerkraut (Potentilla aurea), der feingeſtaltete Alpenſchwin¬
gel
(Festuca pumila und nigrescens), der niedliche Felſen-
Windhalm (Agrostis alpina) und die ihrer Nährkraft halber
hochgeſchätzte Romeye (Poa alpina, Alpen-Rispengras). Aus
dieſem, oft dicht ineinander gefilzten Kräuterraſen erheben ſich ferner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0420" n="378"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Wildheuer</hi>.<lb/></fw> und ineinandergerechnet vermag jeder Mann täglich wohl einen<lb/>
Zentner einzubringen. Er verdient damit etwa einen Tagelohn<lb/>
von 3 bis 4 Franken. Tritt aber &#x017F;türmi&#x017F;ches Wetter ein, weht<lb/>
der in der Höhe oft wildbrau&#x017F;ende Wind das ge&#x017F;chnittene Kamm¬<lb/>
heu über die Wand hinab, da&#x017F;&#x017F;elbe weit umher zer&#x017F;treuend, oder<lb/>
&#x017F;chwemmen brau&#x017F;ende Regengü&#x017F;&#x017F;e da&#x017F;&#x017F;elbe fort, dann i&#x017F;t freilich<lb/>
viel Gefahr und mühevolle Arbeit um&#x017F;on&#x017F;t gewe&#x017F;en. Denn das<lb/>
Wildheu be&#x017F;teht größtentheils aus zarten, dünn&#x017F;tengeligen, kurzen<lb/>
Kräutern und Grä&#x017F;ern von ungemein zierlichem Wuch&#x017F;e, eine wahre<lb/>
Liliputaner-Vegetation, gegenüber dem halmenreichen, hochge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;<lb/>
nen, breitblätterigen &#x201E;Fei&#x017F;then&#x201C; der Thalwie&#x017F;en. Die duftende<lb/><hi rendition="#g">Mutteri</hi> (<hi rendition="#aq">Meum mutellina</hi>) mit ihren weißen Doldenblüthen<lb/>
nimmt die vornehm&#x017F;te Stelle unter den Futterpflanzen ein; &#x017F;ie<lb/>
gilt für das milchergiebig&#x017F;te Alpenkraut, dem das <hi rendition="#g">Adelgras</hi> oder<lb/><hi rendition="#g">Riz</hi> (<hi rendition="#aq">Plantago alpina</hi>, Alpenwegerich) an Milchgehalt zunäch&#x017F;t<lb/>
&#x017F;teht. Mit ihnen konkurriren: die flach an den Boden gedrückte<lb/><hi rendition="#g">Bergbenedikte</hi> (<hi rendition="#aq">Geum montanum</hi>, Bergnelkenwurz) mit breiten,<lb/>
fingerkrautartigen Blättern und großen ro&#x017F;ettirten Goldblüthen, &#x2014;<lb/>
das niedliche, weißblumige <hi rendition="#g">Alpenmaslieb</hi> (<hi rendition="#aq">Chrysanthemum al¬<lb/>
pinum</hi>), &#x2014; der zierliche <hi rendition="#g">Manns&#x017F;child</hi> (<hi rendition="#aq">Androsace obtusifolia</hi><lb/>
und <hi rendition="#aq">chamaejasme</hi>) und das runde <hi rendition="#g">Frauenmänteli</hi> (<hi rendition="#aq">Alchemilla<lb/>
vulgaris</hi>), auch &#x201E;<hi rendition="#g">Thaumänteli</hi>&#x201C; genannt, weil die mittelalterliche<lb/>
Heilkun&#x017F;t und der Volksglaube dem, auf die nierenförmig-rund¬<lb/>
lichen, &#x017F;eidenharigen Blätter niederge&#x017F;chlagenen Thau Wunder¬<lb/>
kräfte zu&#x017F;chrieb. Dazwi&#x017F;chen birgt &#x017F;ich der hygrometri&#x017F;ch-empfind¬<lb/>
liche <hi rendition="#g">Eberwurz</hi> (<hi rendition="#aq">Carlina acaulis</hi>), der zwergartige <hi rendition="#g">Alpenehren¬<lb/>
preis</hi> (<hi rendition="#aq">Veronica alpina</hi>), das niedrige, brennendgelb blühende<lb/><hi rendition="#g">Fingerkraut</hi> (<hi rendition="#aq">Potentilla aurea</hi>), der feinge&#x017F;taltete <hi rendition="#g">Alpen&#x017F;chwin¬<lb/>
gel</hi> (<hi rendition="#aq">Festuca pumila</hi> und <hi rendition="#aq">nigrescens</hi>), der niedliche Fel&#x017F;en-<lb/><hi rendition="#g">Windhalm</hi> (<hi rendition="#aq">Agrostis alpina</hi>) und die ihrer Nährkraft halber<lb/>
hochge&#x017F;chätzte <hi rendition="#g">Romeye</hi> (<hi rendition="#aq">Poa alpina</hi>, Alpen-Rispengras). Aus<lb/>
die&#x017F;em, oft dicht ineinander gefilzten Kräuterra&#x017F;en erheben &#x017F;ich ferner<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[378/0420] Der Wildheuer. und ineinandergerechnet vermag jeder Mann täglich wohl einen Zentner einzubringen. Er verdient damit etwa einen Tagelohn von 3 bis 4 Franken. Tritt aber ſtürmiſches Wetter ein, weht der in der Höhe oft wildbrauſende Wind das geſchnittene Kamm¬ heu über die Wand hinab, daſſelbe weit umher zerſtreuend, oder ſchwemmen brauſende Regengüſſe daſſelbe fort, dann iſt freilich viel Gefahr und mühevolle Arbeit umſonſt geweſen. Denn das Wildheu beſteht größtentheils aus zarten, dünnſtengeligen, kurzen Kräutern und Gräſern von ungemein zierlichem Wuchſe, eine wahre Liliputaner-Vegetation, gegenüber dem halmenreichen, hochgeſchoſſe¬ nen, breitblätterigen „Feiſthen“ der Thalwieſen. Die duftende Mutteri (Meum mutellina) mit ihren weißen Doldenblüthen nimmt die vornehmſte Stelle unter den Futterpflanzen ein; ſie gilt für das milchergiebigſte Alpenkraut, dem das Adelgras oder Riz (Plantago alpina, Alpenwegerich) an Milchgehalt zunächſt ſteht. Mit ihnen konkurriren: die flach an den Boden gedrückte Bergbenedikte (Geum montanum, Bergnelkenwurz) mit breiten, fingerkrautartigen Blättern und großen roſettirten Goldblüthen, — das niedliche, weißblumige Alpenmaslieb (Chrysanthemum al¬ pinum), — der zierliche Mannsſchild (Androsace obtusifolia und chamaejasme) und das runde Frauenmänteli (Alchemilla vulgaris), auch „Thaumänteli“ genannt, weil die mittelalterliche Heilkunſt und der Volksglaube dem, auf die nierenförmig-rund¬ lichen, ſeidenharigen Blätter niedergeſchlagenen Thau Wunder¬ kräfte zuſchrieb. Dazwiſchen birgt ſich der hygrometriſch-empfind¬ liche Eberwurz (Carlina acaulis), der zwergartige Alpenehren¬ preis (Veronica alpina), das niedrige, brennendgelb blühende Fingerkraut (Potentilla aurea), der feingeſtaltete Alpenſchwin¬ gel (Festuca pumila und nigrescens), der niedliche Felſen- Windhalm (Agrostis alpina) und die ihrer Nährkraft halber hochgeſchätzte Romeye (Poa alpina, Alpen-Rispengras). Aus dieſem, oft dicht ineinander gefilzten Kräuterraſen erheben ſich ferner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/420
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/420>, abgerufen am 22.11.2024.