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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Wildheuer.
schweren, fest zusammengeschnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen
könnten, oder ist die absinkende Fluh stark mit Gestrüpp und Knieholz
bewachsen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat
der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerschweren Lasten
auf den Schultern hinabzutragen, -- hinabzutragen auf Pfaden,
die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Man denke sich eine Felsenwand mehrere hundert Fuß fast loth¬
recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terrasse auf¬
steigend und hoch droben auf dem Felsengerüst die Wildheu-
Plangge. Diese ungeheuere Strebemasse, gegen welche der größte
Münster, das riesigste Bauwerk der Erde Spielzeug zu sein schei¬
nen, besteht aus emporgerichteten, gleichsam auf die Kanten ge¬
stellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung
hat in verschiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen
und zu Thal gestürzt, so daß, gleichsam terrassirt, horizontal ge¬
neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Gesimse an einem
Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬
ten, sind begreiflich auch diese Gesimse nur wenige Zoll oder Fuß
breit und bilden jene "Felsenbänder", oder wenn sie bewachsen
sind, s. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal gesehen, gleich
dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felsen¬
front überspinnen. Es sind die Pfade des Gemsenjägers, des
Wildheuers Rechts wächst die Wand jäh, glatt, senkrecht in die
Lüfte empor bis zum nächsten Rasenband oder bis zu den Gipfel¬
zacken, -- links sinkt sie ebenso steil in die Tiefe nieder. Da¬
zwischen liegt der Felsenweg, abschüssig, schlüpfrig, bröcklig, oft
nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große
Thalbild hinschweifen, wenn der Kopf schwindelfrei und an die
gewaltigen Eindrücke gewöhnt ist; ein unseliger Blick in die
erblauende Tiefe, -- hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬
wälder, die zu Moosdecken zusammengeschrumpft zu sein scheinen,
-- reißt den Mann mit magnetischer Kraft zum Todessturz.

Der Wildheuer.
ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen
könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz
bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat
der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten
auf den Schultern hinabzutragen, — hinabzutragen auf Pfaden,
die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen.

Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬
recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬
ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu-
Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte
Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬
nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬
ſtellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung
hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen
und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬
neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem
Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬
ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß
breit und bilden jene „Felſenbänder“, oder wenn ſie bewachſen
ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich
dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬
front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des
Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die
Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬
zacken, — links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬
zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft
nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große
Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die
gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; ein unſeliger Blick in die
erblauende Tiefe, — hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬
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[380/0422] Der Wildheuer. ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten auf den Schultern hinabzutragen, — hinabzutragen auf Pfaden, die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen. Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬ recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬ ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu- Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬ nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬ ſtellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬ neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬ ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß breit und bilden jene „Felſenbänder“, oder wenn ſie bewachſen ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬ front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬ zacken, — links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬ zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; ein unſeliger Blick in die erblauende Tiefe, — hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬ wälder, die zu Moosdecken zuſammengeſchrumpft zu ſein ſcheinen, — reißt den Mann mit magnetiſcher Kraft zum Todesſturz.

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/422>, abgerufen am 22.11.2024.