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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Auf der Jagd.
während der Hirt mit seinem Gaul eiligst die Flucht ergreift und
glücklich das Ofen-Wirthshaus erreicht, wo ihn eine Krankheit
überfiel.

Der Sommer 1860 war überhaupt außerordentlich bärenreich;
im Unterengadin kamen sie oft bis in die unmittelbarste Nähe der
Dörfer, und bei Süß wars der Fall, daß ein großer, ausgewachse¬
ner Meister Petz etwa eine halbe Büchsenschuß-Weite von der
Landstraße unbesorgt weidete, während ein Fuhrmann aus Leibes¬
kräften mit der Peitsche knallte, um ihn zu vertreiben, und jenseit
des Inn mehr denn ein halb Dutzend Leute mit Heuen beschäftigt
waren. -- Bei Zernetz hatte kurz vorher ein Bär in der Zeit von
zehn Tagen 17 der fettesten Schaafe geraubt.

So zufällig trifft sichs denn doch nicht jederzeit. Auf die
Kunde von dem übermäßigen Bärenreichthum des Jahres 1860,
machten ein Paar hohe Herrschaften: der auf seinem Sommersitz
Weinburg (Kanton St. Gallen) verweilende Preußische Premier-
Minister, Fürst von Siegmaringen, und der Großherzog von Hessen,
in Begleitung einiger tüchtiger Alpenjäger, gegen Ende September
im Engadin den Versuch einer Bärenjagd, konnten aber keine
Bestie auftreiben, und mußten sich begnügen, einige Gemsen ge¬
schossen zu haben.

Der Bär ist ursprünglich scheu, ja fast möchte man sagen
feige; er flieht mit seiner Beute, wenn er eine Herde beraubt hat,
als ob das böse Gewissen ihm jage, die Nähe der Menschen.
Lediglich wenn er gereizt, angegriffen wird, oder wenn er seine
Jungen bedroht wähnt, geht er zur Offensive über. Frecher als
Meister Braun ist unter den Alpenraubthieren der Geyer und Adler.
Er wartet nicht den Angriff ab, sondern er greift selbst an, jedoch
nur nach ungemein kluger Berechnung, wenn er glaubt seines Er¬
folges gewiß zu sein. Gemsenjäger, Wurzelgräber, Wildheuer wissen
genug Fälle zu erzählen, wo sie an jäher Felsenwand von einem
großen Raubvogel überrascht wurden und derselbe versuchte, durch

Auf der Jagd.
während der Hirt mit ſeinem Gaul eiligſt die Flucht ergreift und
glücklich das Ofen-Wirthshaus erreicht, wo ihn eine Krankheit
überfiel.

Der Sommer 1860 war überhaupt außerordentlich bärenreich;
im Unterengadin kamen ſie oft bis in die unmittelbarſte Nähe der
Dörfer, und bei Süß wars der Fall, daß ein großer, ausgewachſe¬
ner Meiſter Petz etwa eine halbe Büchſenſchuß-Weite von der
Landſtraße unbeſorgt weidete, während ein Fuhrmann aus Leibes¬
kräften mit der Peitſche knallte, um ihn zu vertreiben, und jenſeit
des Inn mehr denn ein halb Dutzend Leute mit Heuen beſchäftigt
waren. — Bei Zernetz hatte kurz vorher ein Bär in der Zeit von
zehn Tagen 17 der fetteſten Schaafe geraubt.

So zufällig trifft ſichs denn doch nicht jederzeit. Auf die
Kunde von dem übermäßigen Bärenreichthum des Jahres 1860,
machten ein Paar hohe Herrſchaften: der auf ſeinem Sommerſitz
Weinburg (Kanton St. Gallen) verweilende Preußiſche Premier-
Miniſter, Fürſt von Siegmaringen, und der Großherzog von Heſſen,
in Begleitung einiger tüchtiger Alpenjäger, gegen Ende September
im Engadin den Verſuch einer Bärenjagd, konnten aber keine
Beſtie auftreiben, und mußten ſich begnügen, einige Gemſen ge¬
ſchoſſen zu haben.

Der Bär iſt urſprünglich ſcheu, ja faſt möchte man ſagen
feige; er flieht mit ſeiner Beute, wenn er eine Herde beraubt hat,
als ob das böſe Gewiſſen ihm jage, die Nähe der Menſchen.
Lediglich wenn er gereizt, angegriffen wird, oder wenn er ſeine
Jungen bedroht wähnt, geht er zur Offenſive über. Frecher als
Meiſter Braun iſt unter den Alpenraubthieren der Geyer und Adler.
Er wartet nicht den Angriff ab, ſondern er greift ſelbſt an, jedoch
nur nach ungemein kluger Berechnung, wenn er glaubt ſeines Er¬
folges gewiß zu ſein. Gemſenjäger, Wurzelgräber, Wildheuer wiſſen
genug Fälle zu erzählen, wo ſie an jäher Felſenwand von einem
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[422/0470] Auf der Jagd. während der Hirt mit ſeinem Gaul eiligſt die Flucht ergreift und glücklich das Ofen-Wirthshaus erreicht, wo ihn eine Krankheit überfiel. Der Sommer 1860 war überhaupt außerordentlich bärenreich; im Unterengadin kamen ſie oft bis in die unmittelbarſte Nähe der Dörfer, und bei Süß wars der Fall, daß ein großer, ausgewachſe¬ ner Meiſter Petz etwa eine halbe Büchſenſchuß-Weite von der Landſtraße unbeſorgt weidete, während ein Fuhrmann aus Leibes¬ kräften mit der Peitſche knallte, um ihn zu vertreiben, und jenſeit des Inn mehr denn ein halb Dutzend Leute mit Heuen beſchäftigt waren. — Bei Zernetz hatte kurz vorher ein Bär in der Zeit von zehn Tagen 17 der fetteſten Schaafe geraubt. So zufällig trifft ſichs denn doch nicht jederzeit. Auf die Kunde von dem übermäßigen Bärenreichthum des Jahres 1860, machten ein Paar hohe Herrſchaften: der auf ſeinem Sommerſitz Weinburg (Kanton St. Gallen) verweilende Preußiſche Premier- Miniſter, Fürſt von Siegmaringen, und der Großherzog von Heſſen, in Begleitung einiger tüchtiger Alpenjäger, gegen Ende September im Engadin den Verſuch einer Bärenjagd, konnten aber keine Beſtie auftreiben, und mußten ſich begnügen, einige Gemſen ge¬ ſchoſſen zu haben. Der Bär iſt urſprünglich ſcheu, ja faſt möchte man ſagen feige; er flieht mit ſeiner Beute, wenn er eine Herde beraubt hat, als ob das böſe Gewiſſen ihm jage, die Nähe der Menſchen. Lediglich wenn er gereizt, angegriffen wird, oder wenn er ſeine Jungen bedroht wähnt, geht er zur Offenſive über. Frecher als Meiſter Braun iſt unter den Alpenraubthieren der Geyer und Adler. Er wartet nicht den Angriff ab, ſondern er greift ſelbſt an, jedoch nur nach ungemein kluger Berechnung, wenn er glaubt ſeines Er¬ folges gewiß zu ſein. Gemſenjäger, Wurzelgräber, Wildheuer wiſſen genug Fälle zu erzählen, wo ſie an jäher Felſenwand von einem großen Raubvogel überraſcht wurden und derſelbe verſuchte, durch

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/470>, abgerufen am 21.11.2024.