Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Goldauer Bergsturz. Fallen auch auf den Rasenboden über; es sah aus, als ob riesigeSchärmäuse denselben unterwühlten. Zugleich begann ein leise anhebendes Gleiten und Hinabrutschen der ganzen oberen Gegend, das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder sträubten sich der raschen Bewegung zu folgen und erschienen, -- nach Aussage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen vom Anfang bis zu Ende in bangster Aufmerksamkeit mit ansahen, -- etwa so, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs- und Wurzellage kämmt. In immer gesteigerteren Progressionen nahm die angsterfüllende Der Goldauer Bergſturz. Fallen auch auf den Raſenboden über; es ſah aus, als ob rieſigeSchärmäuſe denſelben unterwühlten. Zugleich begann ein leiſe anhebendes Gleiten und Hinabrutſchen der ganzen oberen Gegend, das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder ſträubten ſich der raſchen Bewegung zu folgen und erſchienen, — nach Ausſage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen vom Anfang bis zu Ende in bangſter Aufmerkſamkeit mit anſahen, — etwa ſo, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs- und Wurzellage kämmt. In immer geſteigerteren Progreſſionen nahm die angſterfüllende <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0075" n="55"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Bergſturz</hi>.<lb/></fw> Fallen auch auf den Raſenboden über; es ſah aus, als ob rieſige<lb/> Schärmäuſe denſelben unterwühlten. Zugleich begann ein leiſe<lb/> anhebendes Gleiten und Hinabrutſchen der ganzen oberen Gegend,<lb/> das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder<lb/> ſträubten ſich der raſchen Bewegung zu folgen und erſchienen, —<lb/> nach Ausſage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen<lb/> vom Anfang bis zu Ende in bangſter Aufmerkſamkeit mit anſahen,<lb/> — etwa ſo, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs-<lb/> und Wurzellage kämmt.</p><lb/> <p>In immer geſteigerteren Progreſſionen nahm die angſterfüllende<lb/> Erſcheinung zu; in immer weiteren Kreiſen, in immer ausgedehn¬<lb/> terem Umfange wurden angränzende Matten und Wiesgelände,<lb/> Obſtbaumgärten und Hofſtatten ſammt Stallungen, Menſchen und<lb/> Vieh mit in die ungeheuerliche Bewegung hineingezogen. Das<lb/> Volk, welches den Grund und Boden, auf dem es geboren und<lb/> groß geworden war, unter ſeinen Füßen weichen fühlte, ſchreckte<lb/> entſetzt auf und flüchtete, ſeine Heimath zu verlaſſen. Da —<lb/> Donner und Knall! als ob die Urfundamente der Erdrinde zer¬<lb/> borſten wären, ein raſſelnd-ſchmetterndes Krachen, ein knatterndes<lb/> Gepraſſel, als ob ein tauſendzackiges Blitzbündel aus den ver¬<lb/> derbendrohenden Wolken auf einen Schlag zernichtend in die<lb/> Grundpfeiler der Berge hineingefahren wäre und das Innerſte der<lb/> Gebirge zerſprengt und zertrümmert hätte. Die Steinbergerfluh,<lb/> eine Felſenmaſſe von mehren Millionen Kubikklaftern, ſammt allem<lb/> darauf ſtehenden Hochwald und die darunter terraſſirt ſich nieder¬<lb/> ſenkende, mehr als hundert Fuß hohe Nagelfluh-Wand des „Ge¬<lb/> meinde-Märcht“ waren eingeſtürzt. Dies war das Signal zu<lb/> einem allgemeinen Zerſtörungsakt; denn nun begann ein Schau¬<lb/> ſpiel, welchem an furchtbarer Großartigkeit kaum eine andere Er¬<lb/> ſcheinung zu vergleichen iſt. In wildeſter Auflöſung jagten Felſen¬<lb/> blöcke und Steinſplitter, Erdſchlamm und Raſenfetzen, Geſträuch¬<lb/> knäuel und Baumſchäfte, Alles in bald hoch aufwirbelnde, bald<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [55/0075]
Der Goldauer Bergſturz.
Fallen auch auf den Raſenboden über; es ſah aus, als ob rieſige
Schärmäuſe denſelben unterwühlten. Zugleich begann ein leiſe
anhebendes Gleiten und Hinabrutſchen der ganzen oberen Gegend,
das immer erkennbarer und eilender wurde. Die Tannenwälder
ſträubten ſich der raſchen Bewegung zu folgen und erſchienen, —
nach Ausſage der Leute, welche das ganze furchtbare Phänomen
vom Anfang bis zu Ende in bangſter Aufmerkſamkeit mit anſahen,
— etwa ſo, als wenn man Haare wider ihre natürliche Wuchs-
und Wurzellage kämmt.
In immer geſteigerteren Progreſſionen nahm die angſterfüllende
Erſcheinung zu; in immer weiteren Kreiſen, in immer ausgedehn¬
terem Umfange wurden angränzende Matten und Wiesgelände,
Obſtbaumgärten und Hofſtatten ſammt Stallungen, Menſchen und
Vieh mit in die ungeheuerliche Bewegung hineingezogen. Das
Volk, welches den Grund und Boden, auf dem es geboren und
groß geworden war, unter ſeinen Füßen weichen fühlte, ſchreckte
entſetzt auf und flüchtete, ſeine Heimath zu verlaſſen. Da —
Donner und Knall! als ob die Urfundamente der Erdrinde zer¬
borſten wären, ein raſſelnd-ſchmetterndes Krachen, ein knatterndes
Gepraſſel, als ob ein tauſendzackiges Blitzbündel aus den ver¬
derbendrohenden Wolken auf einen Schlag zernichtend in die
Grundpfeiler der Berge hineingefahren wäre und das Innerſte der
Gebirge zerſprengt und zertrümmert hätte. Die Steinbergerfluh,
eine Felſenmaſſe von mehren Millionen Kubikklaftern, ſammt allem
darauf ſtehenden Hochwald und die darunter terraſſirt ſich nieder¬
ſenkende, mehr als hundert Fuß hohe Nagelfluh-Wand des „Ge¬
meinde-Märcht“ waren eingeſtürzt. Dies war das Signal zu
einem allgemeinen Zerſtörungsakt; denn nun begann ein Schau¬
ſpiel, welchem an furchtbarer Großartigkeit kaum eine andere Er¬
ſcheinung zu vergleichen iſt. In wildeſter Auflöſung jagten Felſen¬
blöcke und Steinſplitter, Erdſchlamm und Raſenfetzen, Geſträuch¬
knäuel und Baumſchäfte, Alles in bald hoch aufwirbelnde, bald
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