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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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Individuen, überwiegend beim männlichen Geschlechte,
tritt plötzlich eine eigenthümliche Störung im Lesen auf,
welche darin besteht, dass der Patient nur wenige Worte
hintereinander herausbringen kann, wodurch seine Arbeits-
fähigkeit in dieser Richtung vernichtet ist. Die Lese-
störung ist unabhängig von etwelchen Affectionen des
Sehorgans und unterscheidet sich von den bekannten,
unter dem Bilde der Hebetudo visus auftretenden Beein-
trächtigungen der Nahearbeit auch subjectiv dadurch, dass
weder ein Verschwimmen der Buchstaben, noch etwelche
Form des körperlichen Schmerzes dabei empfunden wird;
nur ein gewisser, individuell verschiedener Grad von Un-
behagen macht sich geltend, eine Art von Unlustgefühl,
welche durch den forcirten Versuch, weiter zn lesen, ge-
steigert wird.

In einer Reihe von Fällen tritt diese eigenthümliche
Lesestörung, wie gesagt, ohne Vorboten ein; in anderen
Fällen gehen ihr Kopfweh, Schwindel, manchmal sogar
epileptiforme Anfälle voraus; manchmal auch vorüber-
gehende Obscurationen. Zuweilen verbinden sich mit
denselben schon von Anfang an rechtsseitige Innervations-
störungen, wie Zuckungen im Gebiete der Facialis, Par-
ästhesien der oberen und unteren Extremität etc.

In der Regel nimmt nun die Lesestörung einen
günstigen Verlauf und zwar meistentheils in relativ kurzer
Zeit, so zwar, dass in 3 bis 4 Wochen schon mehrere
Zeilen oder kurze Sätze gelesen werden. Wenn dies
zunächst auch nur mit Anstrengung geschieht, so erstarkt
doch nach und nach die wiedergewonnene Leistungs-
fähigkeit und pflegt anscheinend das frühere Maass wieder
zu erreichen. Einmal habe ich die Dyslexie allerdings
noch 3 Monate nach ihrem Auftreten in ungemindertem
Grade bestehen sehen, allein auch in diesem Falle war
sie nach 7 weiteren Monaten verschwunden. Mit dieser
Besserung der Dyslexie ist aber das Krankheitsbild nicht

Individuen, überwiegend beim männlichen Geschlechte,
tritt plötzlich eine eigenthümliche Störung im Lesen auf,
welche darin besteht, dass der Patient nur wenige Worte
hintereinander herausbringen kann, wodurch seine Arbeits-
fähigkeit in dieser Richtung vernichtet ist. Die Lese-
störung ist unabhängig von etwelchen Affectionen des
Sehorgans und unterscheidet sich von den bekannten,
unter dem Bilde der Hebetudo visus auftretenden Beein-
trächtigungen der Nahearbeit auch subjectiv dadurch, dass
weder ein Verschwimmen der Buchstaben, noch etwelche
Form des körperlichen Schmerzes dabei empfunden wird;
nur ein gewisser, individuell verschiedener Grad von Un-
behagen macht sich geltend, eine Art von Unlustgefühl,
welche durch den forcirten Versuch, weiter zn lesen, ge-
steigert wird.

In einer Reihe von Fällen tritt diese eigenthümliche
Lesestörung, wie gesagt, ohne Vorboten ein; in anderen
Fällen gehen ihr Kopfweh, Schwindel, manchmal sogar
epileptiforme Anfälle voraus; manchmal auch vorüber-
gehende Obscurationen. Zuweilen verbinden sich mit
denselben schon von Anfang an rechtsseitige Innervations-
störungen, wie Zuckungen im Gebiete der Facialis, Par-
ästhesien der oberen und unteren Extremität etc.

In der Regel nimmt nun die Lesestörung einen
günstigen Verlauf und zwar meistentheils in relativ kurzer
Zeit, so zwar, dass in 3 bis 4 Wochen schon mehrere
Zeilen oder kurze Sätze gelesen werden. Wenn dies
zunächst auch nur mit Anstrengung geschieht, so erstarkt
doch nach und nach die wiedergewonnene Leistungs-
fähigkeit und pflegt anscheinend das frühere Maass wieder
zu erreichen. Einmal habe ich die Dyslexie allerdings
noch 3 Monate nach ihrem Auftreten in ungemindertem
Grade bestehen sehen, allein auch in diesem Falle war
sie nach 7 weiteren Monaten verschwunden. Mit dieser
Besserung der Dyslexie ist aber das Krankheitsbild nicht

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[66/0070] Individuen, überwiegend beim männlichen Geschlechte, tritt plötzlich eine eigenthümliche Störung im Lesen auf, welche darin besteht, dass der Patient nur wenige Worte hintereinander herausbringen kann, wodurch seine Arbeits- fähigkeit in dieser Richtung vernichtet ist. Die Lese- störung ist unabhängig von etwelchen Affectionen des Sehorgans und unterscheidet sich von den bekannten, unter dem Bilde der Hebetudo visus auftretenden Beein- trächtigungen der Nahearbeit auch subjectiv dadurch, dass weder ein Verschwimmen der Buchstaben, noch etwelche Form des körperlichen Schmerzes dabei empfunden wird; nur ein gewisser, individuell verschiedener Grad von Un- behagen macht sich geltend, eine Art von Unlustgefühl, welche durch den forcirten Versuch, weiter zn lesen, ge- steigert wird. In einer Reihe von Fällen tritt diese eigenthümliche Lesestörung, wie gesagt, ohne Vorboten ein; in anderen Fällen gehen ihr Kopfweh, Schwindel, manchmal sogar epileptiforme Anfälle voraus; manchmal auch vorüber- gehende Obscurationen. Zuweilen verbinden sich mit denselben schon von Anfang an rechtsseitige Innervations- störungen, wie Zuckungen im Gebiete der Facialis, Par- ästhesien der oberen und unteren Extremität etc. In der Regel nimmt nun die Lesestörung einen günstigen Verlauf und zwar meistentheils in relativ kurzer Zeit, so zwar, dass in 3 bis 4 Wochen schon mehrere Zeilen oder kurze Sätze gelesen werden. Wenn dies zunächst auch nur mit Anstrengung geschieht, so erstarkt doch nach und nach die wiedergewonnene Leistungs- fähigkeit und pflegt anscheinend das frühere Maass wieder zu erreichen. Einmal habe ich die Dyslexie allerdings noch 3 Monate nach ihrem Auftreten in ungemindertem Grade bestehen sehen, allein auch in diesem Falle war sie nach 7 weiteren Monaten verschwunden. Mit dieser Besserung der Dyslexie ist aber das Krankheitsbild nicht

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/70>, abgerufen am 27.04.2024.