Selbst das gemeine Volck und die alten Wei- ber scheinen diese Wahrheit, und das, wovon ich bisher geredet, einzusehen. Nur an ei- nem dieser Tage gieng ich auf der Gasse vor zwey Weibern vorbey, die von einem gewissen dritten Weibe redeten. Ja, sprach die eine, sie macht ihr ietzund über alles ein Gewis- sen; denn sehet, sie ist so mit Miltz-Angst geplaget.
Und ich bleibe dabey, was ich manchmahl im Schertz gesaget: Der Miltz ist der schärffsteMoraliste auf Erden; der kan, wenn er kräncklich und verstopfft ist, und Furcht, Angst und Traurigkeit verursacht, den Men- schenper accidens die Augen aufthun, daß sie von ihrer Thaten Sittlichkeit, Beschaffenheit und Größe der Sünden weit besser, als in ge- sunden Tagen urtheilen können. Timor emendator acerrimus (Bartoli dell' ultimo fine dell' huomo.) Laß es seyn, daß manchmahl Melancholici und Miltz-süchtige Leute, wo etwan das Ubel gar zu hefftig, auf allzu strenge und scharffe Lehr- und Sitten-Sätze verfallen, welche sie hernachmahls widerruffen, und auch wol gar in geringen kleinen Dingen ein Gewis- sen sich machen, und conscientiam scrupulo- sam bekommen; so hat mich, und andere doch die Erfahrung gelehret, daß ein solcher krancker
Leib,
inſonderheit Melancholici,
Selbſt das gemeine Volck und die alten Wei- ber ſcheinen dieſe Wahrheit, und das, wovon ich bisher geredet, einzuſehen. Nur an ei- nem dieſer Tage gieng ich auf der Gaſſe vor zwey Weibern vorbey, die von einem gewiſſen dritten Weibe redeten. Ja, ſprach die eine, ſie macht ihr ietzund uͤber alles ein Gewiſ- ſen; denn ſehet, ſie iſt ſo mit Miltz-Angſt geplaget.
Und ich bleibe dabey, was ich manchmahl im Schertz geſaget: Der Miltz iſt der ſchaͤrffſteMoraliſte auf Erden; der kan, wenn er kraͤncklich und verſtopfft iſt, und Furcht, Angſt und Traurigkeit verurſacht, den Men- ſchenper accidens die Augen aufthun, daß ſie von ihrer Thaten Sittlichkeit, Beſchaffenheit und Groͤße der Suͤnden weit beſſer, als in ge- ſunden Tagen urtheilen koͤnnen. Timor emendator acerrimus (Bartoli dell’ ultimo fine dell’ huomo.) Laß es ſeyn, daß manchmahl Melancholici und Miltz-ſuͤchtige Leute, wo etwan das Ubel gar zu hefftig, auf allzu ſtrenge und ſcharffe Lehr- und Sitten-Saͤtze verfallen, welche ſie hernachmahls widerruffen, und auch wol gar in geringen kleinen Dingen ein Gewiſ- ſen ſich machen, und conſcientiam ſcrupulo- ſam bekommen; ſo hat mich, und andere doch die Erfahrung gelehret, daß ein ſolcher krancker
Leib,
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inſonderheit Melancholici,
Selbſt das gemeine Volck und die alten Wei-
ber ſcheinen dieſe Wahrheit, und das, wovon
ich bisher geredet, einzuſehen. Nur an ei-
nem dieſer Tage gieng ich auf der Gaſſe vor
zwey Weibern vorbey, die von einem gewiſſen
dritten Weibe redeten. Ja, ſprach die eine,
ſie macht ihr ietzund uͤber alles ein Gewiſ-
ſen; denn ſehet, ſie iſt ſo mit Miltz-Angſt
geplaget.
Und ich bleibe dabey, was ich manchmahl
im Schertz geſaget: Der Miltz iſt der
ſchaͤrffſte Moraliſte auf Erden; der kan, wenn
er kraͤncklich und verſtopfft iſt, und Furcht,
Angſt und Traurigkeit verurſacht, den Men-
ſchen per accidens die Augen aufthun, daß ſie
von ihrer Thaten Sittlichkeit, Beſchaffenheit
und Groͤße der Suͤnden weit beſſer, als in ge-
ſunden Tagen urtheilen koͤnnen. Timor
emendator acerrimus (Bartoli dell’ ultimo fine
dell’ huomo.) Laß es ſeyn, daß manchmahl
Melancholici und Miltz-ſuͤchtige Leute, wo
etwan das Ubel gar zu hefftig, auf allzu ſtrenge
und ſcharffe Lehr- und Sitten-Saͤtze verfallen,
welche ſie hernachmahls widerruffen, und auch
wol gar in geringen kleinen Dingen ein Gewiſ-
ſen ſich machen, und conſcientiam ſcrupulo-
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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/347>, abgerufen am 22.11.2024.
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