Nach Wort und Absicht beschränkt sich die Modifikation überhaupt nur auf die schweren Verbrechen, welche mit dem Tode. oder lebens- länglicher Zuchthausstrafe bedroht sind. Diese Beschränkung hat die systematische Konsequenz gegen sich; allein sie ist aus praktischen Gründen unabweislich. Wollte man jene Milderung bei allen Verbrechen und Vergehen eintreten lassen (natürlich noch unter weiterer Herabsetzung des Minimums von zwei Jahren Gefängniß) oder auch nur bei allen Verbrechen, so würde nicht nur das Gesetzbuch sehr abgeschwächt worden sein, wie in allen Gesetzgebungen, welche das System der mildernden Umstände allgemein aufgestellt haben, geschehen ist; sondern es würden auch die Gerichtsverhandlungen im hohen Grade verweitläufigt werden, indem von den Defensoren fortwährend Fragen wegen des Vorhanden- seins mildernder Umstände würden gestellt worden sein. Die Beschrän- kung auf die Kapitalverbrechen, analog mit §. 32., ist also gerechtfertigt, da sich auch nur bei diesen schweren absoluten Strafen ein eigentliches Bedürfniß ergiebt. -- Vielleicht ist aber die Kommission in der Herab- setzung bis auf zwei Jahr Gefängniß zu weit gegangen, weil die außer- ordentlichen Fälle geringer Strafbarkeit, die man vor Augen gehabt hat, nur im Begnadigungswege ihre Erledigung finden können. Indessen läßt sich doch für die Bestimmung anführen, daß die Milderung nur bei solchen Verbrechen der gedachten Kategorie, wenn auch nicht nach den Worten, so doch nach der Absicht des Gesetzgebers eintreten soll, bei welchen, wie beim Todtschlage, nach der Natur des Verbrechens überhaupt mildernde Umstände anzunehmen sind; bei der vorsätzlichen Brandstiftung oder Ueberschwemmung u. s. w. wird man, ohne dem Ge- setze Gewalt anzuthun, sie nicht annehmen können. -- Gegen die frag- liche Bestimmung des §. 35. läßt sich im Wesentlichen dasselbe einwen- den, was gegen §. 32. angeführt wird, nämlich daß die schwersten Fälle principiell insofern am mildesten behandelt sind, daß bei ihnen aus- schließlich die lareren Grundsätze des gemeinen Deutschen Kriminalrechts und des Allg. Landrechts beibehalten worden sind. Allein für die Praxis ist diese Beschränkung unentbehrlich und die Erfahrung wird, namentlich bei dem weiten Spielraum, welcher dem richterlichen Ermessen bei den relativen Strafen gegeben ist, die Vorschriften des Gesetzbuchs recht- fertigen.
§.36.
Wer durch Reden an öffentlichen Orten oder bei öffentlichen Zusammen- künften, oder durch Schriften, Abbildungen oder andere Darstellungen, welche verkauft, vertheilt oder umhergetragen, oder öffentlich ausgestellt oder ange- schlagen werden, zu einer Handlung auffordert, anreizt, verleitet oder zu be-
§. 36. Oeffentliche Aufforderung.
Nach Wort und Abſicht beſchränkt ſich die Modifikation überhaupt nur auf die ſchweren Verbrechen, welche mit dem Tode. oder lebens- länglicher Zuchthausſtrafe bedroht ſind. Dieſe Beſchränkung hat die ſyſtematiſche Konſequenz gegen ſich; allein ſie iſt aus praktiſchen Gründen unabweislich. Wollte man jene Milderung bei allen Verbrechen und Vergehen eintreten laſſen (natürlich noch unter weiterer Herabſetzung des Minimums von zwei Jahren Gefängniß) oder auch nur bei allen Verbrechen, ſo würde nicht nur das Geſetzbuch ſehr abgeſchwächt worden ſein, wie in allen Geſetzgebungen, welche das Syſtem der mildernden Umſtände allgemein aufgeſtellt haben, geſchehen iſt; ſondern es würden auch die Gerichtsverhandlungen im hohen Grade verweitläufigt werden, indem von den Defenſoren fortwährend Fragen wegen des Vorhanden- ſeins mildernder Umſtände würden geſtellt worden ſein. Die Beſchrän- kung auf die Kapitalverbrechen, analog mit §. 32., iſt alſo gerechtfertigt, da ſich auch nur bei dieſen ſchweren abſoluten Strafen ein eigentliches Bedürfniß ergiebt. — Vielleicht iſt aber die Kommiſſion in der Herab- ſetzung bis auf zwei Jahr Gefängniß zu weit gegangen, weil die außer- ordentlichen Fälle geringer Strafbarkeit, die man vor Augen gehabt hat, nur im Begnadigungswege ihre Erledigung finden können. Indeſſen läßt ſich doch für die Beſtimmung anführen, daß die Milderung nur bei ſolchen Verbrechen der gedachten Kategorie, wenn auch nicht nach den Worten, ſo doch nach der Abſicht des Geſetzgebers eintreten ſoll, bei welchen, wie beim Todtſchlage, nach der Natur des Verbrechens überhaupt mildernde Umſtände anzunehmen ſind; bei der vorſätzlichen Brandſtiftung oder Ueberſchwemmung u. ſ. w. wird man, ohne dem Ge- ſetze Gewalt anzuthun, ſie nicht annehmen können. — Gegen die frag- liche Beſtimmung des §. 35. läßt ſich im Weſentlichen daſſelbe einwen- den, was gegen §. 32. angeführt wird, nämlich daß die ſchwerſten Fälle principiell inſofern am mildeſten behandelt ſind, daß bei ihnen aus- ſchließlich die lareren Grundſätze des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts und des Allg. Landrechts beibehalten worden ſind. Allein für die Praxis iſt dieſe Beſchränkung unentbehrlich und die Erfahrung wird, namentlich bei dem weiten Spielraum, welcher dem richterlichen Ermeſſen bei den relativen Strafen gegeben iſt, die Vorſchriften des Geſetzbuchs recht- fertigen.
§.36.
Wer durch Reden an öffentlichen Orten oder bei öffentlichen Zuſammen- künften, oder durch Schriften, Abbildungen oder andere Darſtellungen, welche verkauft, vertheilt oder umhergetragen, oder öffentlich ausgeſtellt oder ange- ſchlagen werden, zu einer Handlung auffordert, anreizt, verleitet oder zu be-
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§. 36. Oeffentliche Aufforderung.
Nach Wort und Abſicht beſchränkt ſich die Modifikation überhaupt
nur auf die ſchweren Verbrechen, welche mit dem Tode. oder lebens-
länglicher Zuchthausſtrafe bedroht ſind. Dieſe Beſchränkung hat die
ſyſtematiſche Konſequenz gegen ſich; allein ſie iſt aus praktiſchen Gründen
unabweislich. Wollte man jene Milderung bei allen Verbrechen und
Vergehen eintreten laſſen (natürlich noch unter weiterer Herabſetzung
des Minimums von zwei Jahren Gefängniß) oder auch nur bei allen
Verbrechen, ſo würde nicht nur das Geſetzbuch ſehr abgeſchwächt worden
ſein, wie in allen Geſetzgebungen, welche das Syſtem der mildernden
Umſtände allgemein aufgeſtellt haben, geſchehen iſt; ſondern es würden
auch die Gerichtsverhandlungen im hohen Grade verweitläufigt werden,
indem von den Defenſoren fortwährend Fragen wegen des Vorhanden-
ſeins mildernder Umſtände würden geſtellt worden ſein. Die Beſchrän-
kung auf die Kapitalverbrechen, analog mit §. 32., iſt alſo gerechtfertigt,
da ſich auch nur bei dieſen ſchweren abſoluten Strafen ein eigentliches
Bedürfniß ergiebt. — Vielleicht iſt aber die Kommiſſion in der Herab-
ſetzung bis auf zwei Jahr Gefängniß zu weit gegangen, weil die außer-
ordentlichen Fälle geringer Strafbarkeit, die man vor Augen gehabt hat,
nur im Begnadigungswege ihre Erledigung finden können. Indeſſen
läßt ſich doch für die Beſtimmung anführen, daß die Milderung nur
bei ſolchen Verbrechen der gedachten Kategorie, wenn auch nicht nach
den Worten, ſo doch nach der Abſicht des Geſetzgebers eintreten ſoll,
bei welchen, wie beim Todtſchlage, nach der Natur des Verbrechens
überhaupt mildernde Umſtände anzunehmen ſind; bei der vorſätzlichen
Brandſtiftung oder Ueberſchwemmung u. ſ. w. wird man, ohne dem Ge-
ſetze Gewalt anzuthun, ſie nicht annehmen können. — Gegen die frag-
liche Beſtimmung des §. 35. läßt ſich im Weſentlichen daſſelbe einwen-
den, was gegen §. 32. angeführt wird, nämlich daß die ſchwerſten Fälle
principiell inſofern am mildeſten behandelt ſind, daß bei ihnen aus-
ſchließlich die lareren Grundſätze des gemeinen Deutſchen Kriminalrechts
und des Allg. Landrechts beibehalten worden ſind. Allein für die Praxis
iſt dieſe Beſchränkung unentbehrlich und die Erfahrung wird, namentlich
bei dem weiten Spielraum, welcher dem richterlichen Ermeſſen bei den
relativen Strafen gegeben iſt, die Vorſchriften des Geſetzbuchs recht-
fertigen.
§.36.
Wer durch Reden an öffentlichen Orten oder bei öffentlichen Zuſammen-
künften, oder durch Schriften, Abbildungen oder andere Darſtellungen, welche
verkauft, vertheilt oder umhergetragen, oder öffentlich ausgeſtellt oder ange-
ſchlagen werden, zu einer Handlung auffordert, anreizt, verleitet oder zu be-
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/175>, abgerufen am 21.11.2024.
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