"Die Frage über die Zurechnungsfähigkeit wird von den Geschworenen bei dem Ausspruche über das Schul- dig entschieden."
Wie der §. 40. jetzt gefaßt ist, kann man wohl sagen, daß er eigentlich zu viel oder zu wenig enthält. Zuviel, wenn die Frage über die Zurechnungsfähigkeit als ein Theil der Schuldfrage überhaupt dem Ermessen des erkennenden Richters überwiesen werden soll; denn schon die gebrauchten Bezeichnungen: "wahnsinnig oder blödsinnig" können, weil sie technisch sind, zu Schwierigkeiten führen, denen der erkennende Richter ohne ihre Anführung im Gesetzbuch enthoben wäre. Zu we- nig, wenn es die Absicht ist, diesem Ermessen eine bestimmte gesetzliche Schranke zu setzen oder demselben doch einen sicheren Anhalt für die Entscheidung zu geben. Denn daß, wie die Motive zum Entwurf von 1850. es anzudeuten scheinen, mit den im Paragraphen bezeichneten Fäl- len die ganze Reihe der thatsächlichen Zustände abgeschlossen ist, welche die Unzurechnungsfähigkeit begründen; daß also der Betrunkene, der Nachtwandler, der verwahrloste Taubstumme unter allen Umständen als zurechnungsfähig anzusehen ist, -- eine solche Auffassung wird in der Deutschen Jurisprudenz und vor den Deutschen Gerichtshöfen keine Bil- ligung finden.
Die Bestimmungen dieses Paragraphen sind namentlich in der Kom- mission der ersten Kammer einer gründlichen Erörterung unterzogen wor- den. In dem Bericht heißt es darüber:
"Die in §. 40. gegebene Aufzählung der Fälle der Unzurechnungs- fähigkeit wurde von mehreren Seiten als nicht ausreichend angefochten. Man machte geltend, daß die Begriffe des Wahn- und Blödsinnes kei- nesweges alle hierher gehörenden Seelenkrankheiten umfaßten, und daß außer der Gewalt und der Drohung noch andere äußere Einwirkungen denkbar seien, welche die Willensfreiheit ausschlössen oder lähmten. Es wurde daher eine allgemeinere Fassung dieser Gesetzesstelle, etwa in der Weise des §. 16. Tit. 20. Th. II. des A. L. R. gewünscht und wur- den zu diesem Zweck folgende Verbesserungs-Vorschläge gemacht:
1)Statt der Worte des Entwurfs: "wenn der Thäter zur Zeit der That wahnsinnig oder blödsinnig oder die freie Willensbestim- mung desselben durch Gewalt oder Drohung ausgeschlossen war", die Worte zu setzen: wenn bei dem Thäter zur Zeit der That der freie Gebrauch der Vernunft aufgehoben war;
2) statt derselben Worte des Entwurfs zu sagen:
Beseler Kommentar. 12
§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.
„Die Frage über die Zurechnungsfähigkeit wird von den Geſchworenen bei dem Ausſpruche über das Schul- dig entſchieden.“
Wie der §. 40. jetzt gefaßt iſt, kann man wohl ſagen, daß er eigentlich zu viel oder zu wenig enthält. Zuviel, wenn die Frage über die Zurechnungsfähigkeit als ein Theil der Schuldfrage überhaupt dem Ermeſſen des erkennenden Richters überwieſen werden ſoll; denn ſchon die gebrauchten Bezeichnungen: „wahnſinnig oder blödſinnig“ können, weil ſie techniſch ſind, zu Schwierigkeiten führen, denen der erkennende Richter ohne ihre Anführung im Geſetzbuch enthoben wäre. Zu we- nig, wenn es die Abſicht iſt, dieſem Ermeſſen eine beſtimmte geſetzliche Schranke zu ſetzen oder demſelben doch einen ſicheren Anhalt für die Entſcheidung zu geben. Denn daß, wie die Motive zum Entwurf von 1850. es anzudeuten ſcheinen, mit den im Paragraphen bezeichneten Fäl- len die ganze Reihe der thatſächlichen Zuſtände abgeſchloſſen iſt, welche die Unzurechnungsfähigkeit begründen; daß alſo der Betrunkene, der Nachtwandler, der verwahrloſte Taubſtumme unter allen Umſtänden als zurechnungsfähig anzuſehen iſt, — eine ſolche Auffaſſung wird in der Deutſchen Jurisprudenz und vor den Deutſchen Gerichtshöfen keine Bil- ligung finden.
Die Beſtimmungen dieſes Paragraphen ſind namentlich in der Kom- miſſion der erſten Kammer einer gründlichen Erörterung unterzogen wor- den. In dem Bericht heißt es darüber:
„Die in §. 40. gegebene Aufzählung der Fälle der Unzurechnungs- fähigkeit wurde von mehreren Seiten als nicht ausreichend angefochten. Man machte geltend, daß die Begriffe des Wahn- und Blödſinnes kei- nesweges alle hierher gehörenden Seelenkrankheiten umfaßten, und daß außer der Gewalt und der Drohung noch andere äußere Einwirkungen denkbar ſeien, welche die Willensfreiheit ausſchlöſſen oder lähmten. Es wurde daher eine allgemeinere Faſſung dieſer Geſetzesſtelle, etwa in der Weiſe des §. 16. Tit. 20. Th. II. des A. L. R. gewünſcht und wur- den zu dieſem Zweck folgende Verbeſſerungs-Vorſchläge gemacht:
1)Statt der Worte des Entwurfs: „wenn der Thäter zur Zeit der That wahnſinnig oder blödſinnig oder die freie Willensbeſtim- mung deſſelben durch Gewalt oder Drohung ausgeſchloſſen war“, die Worte zu ſetzen: wenn bei dem Thäter zur Zeit der That der freie Gebrauch der Vernunft aufgehoben war;
2) ſtatt derſelben Worte des Entwurfs zu ſagen:
Beſeler Kommentar. 12
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§. 40. Die Unzurechnungsfähigkeit.
„Die Frage über die Zurechnungsfähigkeit wird von
den Geſchworenen bei dem Ausſpruche über das Schul-
dig entſchieden.“
Wie der §. 40. jetzt gefaßt iſt, kann man wohl ſagen, daß er
eigentlich zu viel oder zu wenig enthält. Zuviel, wenn die Frage über
die Zurechnungsfähigkeit als ein Theil der Schuldfrage überhaupt dem
Ermeſſen des erkennenden Richters überwieſen werden ſoll; denn ſchon
die gebrauchten Bezeichnungen: „wahnſinnig oder blödſinnig“ können,
weil ſie techniſch ſind, zu Schwierigkeiten führen, denen der erkennende
Richter ohne ihre Anführung im Geſetzbuch enthoben wäre. Zu we-
nig, wenn es die Abſicht iſt, dieſem Ermeſſen eine beſtimmte geſetzliche
Schranke zu ſetzen oder demſelben doch einen ſicheren Anhalt für die
Entſcheidung zu geben. Denn daß, wie die Motive zum Entwurf von
1850. es anzudeuten ſcheinen, mit den im Paragraphen bezeichneten Fäl-
len die ganze Reihe der thatſächlichen Zuſtände abgeſchloſſen iſt, welche
die Unzurechnungsfähigkeit begründen; daß alſo der Betrunkene, der
Nachtwandler, der verwahrloſte Taubſtumme unter allen Umſtänden als
zurechnungsfähig anzuſehen iſt, — eine ſolche Auffaſſung wird in der
Deutſchen Jurisprudenz und vor den Deutſchen Gerichtshöfen keine Bil-
ligung finden.
Die Beſtimmungen dieſes Paragraphen ſind namentlich in der Kom-
miſſion der erſten Kammer einer gründlichen Erörterung unterzogen wor-
den. In dem Bericht heißt es darüber:
„Die in §. 40. gegebene Aufzählung der Fälle der Unzurechnungs-
fähigkeit wurde von mehreren Seiten als nicht ausreichend angefochten.
Man machte geltend, daß die Begriffe des Wahn- und Blödſinnes kei-
nesweges alle hierher gehörenden Seelenkrankheiten umfaßten, und daß
außer der Gewalt und der Drohung noch andere äußere Einwirkungen
denkbar ſeien, welche die Willensfreiheit ausſchlöſſen oder lähmten. Es
wurde daher eine allgemeinere Faſſung dieſer Geſetzesſtelle, etwa in der
Weiſe des §. 16. Tit. 20. Th. II. des A. L. R. gewünſcht und wur-
den zu dieſem Zweck folgende Verbeſſerungs-Vorſchläge gemacht:
1)Statt der Worte des Entwurfs: „wenn der Thäter zur Zeit der
That wahnſinnig oder blödſinnig oder die freie Willensbeſtim-
mung deſſelben durch Gewalt oder Drohung ausgeſchloſſen war“,
die Worte zu ſetzen:
wenn bei dem Thäter zur Zeit der That der freie Gebrauch
der Vernunft aufgehoben war;
2) ſtatt derſelben Worte des Entwurfs zu ſagen:
Beſeler Kommentar. 12
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/187>, abgerufen am 24.11.2024.
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