Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

§. V. System und Charakter des Strafgesetzbuchs.
geber auszugehen hat, anzusehen sind, und deren Hineinziehen in das
Gesetzbuch selbst dasselbe mit Gemeinplätzen oder mit einem ungefügigen
wissenschaftlichen Apparat belastet. Man ist vielmehr mit dem bestimm-
ten Bewußtsein des Gegensatzes gegen die ältere Gesetzgebung des Land-
rechts darauf ausgegangen, die Aufgabe des Gesetzgebers nicht über ihre
natürlichen Grenzen hinauszurücken, und hat es eines Theils vermie-
den, in ein Gebiet der Vorstellungen und Anschauungen hinüberzugrei-
fen, über welche der Gesetzgeber doch keine Macht hat, anderen Theils
aber der Jurisprudenz in ihrer wissenschaftlichen und praktischen Fort-
bildung das Vertrauen erwiesen, die ihr zukommende Rechtsentwick-
lung
ihr auch zu überlassen und sie nicht durch das ängstliche Voraus-
bestimmenwollen alles Einzelnen unnöthiger Weise zu hemmen und zu
beschränken. Daß diese ganze Tendenz die richtige, und daß sie im All-
gemeinen mit Einsicht und Maaß verfolgt worden, unterliegt keinem
Zweifel; ob nicht in einzelnen Fällen diese Bescheidung des Gesetzgebers
vielleicht etwas zu weit gegangen, z. B. §. 40 die Bestimmungen über
Ausschließung der Strafe wegen Unzurechnungsfähigkeit zu fragmenta-
risch gefaßt sind, wird später bei den besonderen Erörterungen noch nä-
her zu erwägen sein.

Gewisse Momente aber giebt es, an denen sich das hier im All-
gemeinen Angeführte klar und bestimmt darlegen und zur Anschauung
bringen läßt, und für deren angemessene Berücksichtigung doch das Ge-
setzbuch selbst, eben wegen seiner bezeichneten Haltung, nicht die rechte
Gelegenheit bietet. Es gehören dahin die Freiheit des richterlichen Er-
messens, namentlich in Beziehung auf allgemeine Zumessungsgründe; die
allgemeine Bedeutung der im Gesetz zugelassenen mildernden Umstände;
die allgemeinen Grundsätze über die Verschuldung, namentlich über Vor-
satz und Fahrlässigkeit. Diese Lehren schon in der Einleitung zum Ge-
genstande einer näheren Erörterung zu machen, erscheint um so ange-
messener als das Verständniß des Gesetzbuchs im Allgemeinen dadurch
wesentlich gefördert werden dürfte.

§. VI.

Das richterliche Ermessen.

Die freie Stellung, welche das Strafgesetzbuch denjenigen einräumt,
welche mit der Handhabung der Strafrechtspflege betraut sind, ist theils
durch die Beschaffenheit der Gerichtsverfassung bedingt, welche jetzt bei
uns die allgemein geltende geworden, theils ist sie die nothwendige Folge
der Gesammtanschauung, welche bei der Abfassung des Gesetzbuchs

§. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs.
geber auszugehen hat, anzuſehen ſind, und deren Hineinziehen in das
Geſetzbuch ſelbſt daſſelbe mit Gemeinplätzen oder mit einem ungefügigen
wiſſenſchaftlichen Apparat belaſtet. Man iſt vielmehr mit dem beſtimm-
ten Bewußtſein des Gegenſatzes gegen die ältere Geſetzgebung des Land-
rechts darauf ausgegangen, die Aufgabe des Geſetzgebers nicht über ihre
natürlichen Grenzen hinauszurücken, und hat es eines Theils vermie-
den, in ein Gebiet der Vorſtellungen und Anſchauungen hinüberzugrei-
fen, über welche der Geſetzgeber doch keine Macht hat, anderen Theils
aber der Jurisprudenz in ihrer wiſſenſchaftlichen und praktiſchen Fort-
bildung das Vertrauen erwieſen, die ihr zukommende Rechtsentwick-
lung
ihr auch zu überlaſſen und ſie nicht durch das ängſtliche Voraus-
beſtimmenwollen alles Einzelnen unnöthiger Weiſe zu hemmen und zu
beſchränken. Daß dieſe ganze Tendenz die richtige, und daß ſie im All-
gemeinen mit Einſicht und Maaß verfolgt worden, unterliegt keinem
Zweifel; ob nicht in einzelnen Fällen dieſe Beſcheidung des Geſetzgebers
vielleicht etwas zu weit gegangen, z. B. §. 40 die Beſtimmungen über
Ausſchließung der Strafe wegen Unzurechnungsfähigkeit zu fragmenta-
riſch gefaßt ſind, wird ſpäter bei den beſonderen Erörterungen noch nä-
her zu erwägen ſein.

Gewiſſe Momente aber giebt es, an denen ſich das hier im All-
gemeinen Angeführte klar und beſtimmt darlegen und zur Anſchauung
bringen läßt, und für deren angemeſſene Berückſichtigung doch das Ge-
ſetzbuch ſelbſt, eben wegen ſeiner bezeichneten Haltung, nicht die rechte
Gelegenheit bietet. Es gehören dahin die Freiheit des richterlichen Er-
meſſens, namentlich in Beziehung auf allgemeine Zumeſſungsgründe; die
allgemeine Bedeutung der im Geſetz zugelaſſenen mildernden Umſtände;
die allgemeinen Grundſätze über die Verſchuldung, namentlich über Vor-
ſatz und Fahrläſſigkeit. Dieſe Lehren ſchon in der Einleitung zum Ge-
genſtande einer näheren Erörterung zu machen, erſcheint um ſo ange-
meſſener als das Verſtändniß des Geſetzbuchs im Allgemeinen dadurch
weſentlich gefördert werden dürfte.

§. VI.

Das richterliche Ermeſſen.

Die freie Stellung, welche das Strafgeſetzbuch denjenigen einräumt,
welche mit der Handhabung der Strafrechtspflege betraut ſind, iſt theils
durch die Beſchaffenheit der Gerichtsverfaſſung bedingt, welche jetzt bei
uns die allgemein geltende geworden, theils iſt ſie die nothwendige Folge
der Geſammtanſchauung, welche bei der Abfaſſung des Geſetzbuchs

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0033" n="23"/><fw place="top" type="header">§. V. Sy&#x017F;tem und Charakter des         Strafge&#x017F;etzbuchs.</fw><lb/>
geber auszugehen hat, anzu&#x017F;ehen        &#x017F;ind, und deren Hineinziehen in das<lb/>
Ge&#x017F;etzbuch        &#x017F;elb&#x017F;t da&#x017F;&#x017F;elbe mit Gemeinplätzen oder mit einem        ungefügigen<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Apparat        bela&#x017F;tet. Man i&#x017F;t vielmehr mit dem be&#x017F;timm-<lb/>
ten        Bewußt&#x017F;ein des Gegen&#x017F;atzes gegen die ältere Ge&#x017F;etzgebung des        Land-<lb/>
rechts darauf ausgegangen, die Aufgabe des Ge&#x017F;etzgebers nicht über        ihre<lb/>
natürlichen Grenzen hinauszurücken, und hat es eines Theils vermie-<lb/>
den, in ein        Gebiet der Vor&#x017F;tellungen und An&#x017F;chauungen hinüberzugrei-<lb/>
fen, über        welche der Ge&#x017F;etzgeber doch keine Macht hat, anderen Theils<lb/>
aber der        Jurisprudenz in ihrer wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen und        prakti&#x017F;chen Fort-<lb/>
bildung das Vertrauen erwie&#x017F;en, die ihr        zukommende <hi rendition="#g">Rechtsentwick-<lb/>
lung</hi> ihr auch zu        überla&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ie nicht durch das äng&#x017F;tliche        Voraus-<lb/>
be&#x017F;timmenwollen alles Einzelnen unnöthiger Wei&#x017F;e zu hemmen        und zu<lb/>
be&#x017F;chränken. Daß die&#x017F;e ganze Tendenz die richtige, und daß        &#x017F;ie im All-<lb/>
gemeinen mit Ein&#x017F;icht und Maaß verfolgt worden,        unterliegt keinem<lb/>
Zweifel; ob nicht in einzelnen Fällen die&#x017F;e        Be&#x017F;cheidung des Ge&#x017F;etzgebers<lb/>
vielleicht etwas zu weit gegangen, z.        B. §. 40 die Be&#x017F;timmungen über<lb/>
Aus&#x017F;chließung der Strafe wegen        Unzurechnungsfähigkeit zu fragmenta-<lb/>
ri&#x017F;ch gefaßt &#x017F;ind, wird        &#x017F;päter bei den be&#x017F;onderen Erörterungen noch nä-<lb/>
her zu erwägen        &#x017F;ein.</p><lb/>
            <p>Gewi&#x017F;&#x017F;e Momente aber giebt es, an denen &#x017F;ich das hier im        All-<lb/>
gemeinen Angeführte klar und be&#x017F;timmt darlegen und zur        An&#x017F;chauung<lb/>
bringen läßt, und für deren angeme&#x017F;&#x017F;ene        Berück&#x017F;ichtigung doch das Ge-<lb/>
&#x017F;etzbuch        &#x017F;elb&#x017F;t, eben wegen &#x017F;einer bezeichneten Haltung, nicht die        rechte<lb/>
Gelegenheit bietet. Es gehören dahin die Freiheit des richterlichen        Er-<lb/>
me&#x017F;&#x017F;ens, namentlich in Beziehung auf allgemeine        Zume&#x017F;&#x017F;ungsgründe; die<lb/>
allgemeine Bedeutung der im Ge&#x017F;etz        zugela&#x017F;&#x017F;enen mildernden Um&#x017F;tände;<lb/>
die allgemeinen        Grund&#x017F;ätze über die Ver&#x017F;chuldung, namentlich über        Vor-<lb/>
&#x017F;atz und Fahrlä&#x017F;&#x017F;igkeit. Die&#x017F;e Lehren        &#x017F;chon in der Einleitung zum Ge-<lb/>
gen&#x017F;tande einer näheren Erörterung        zu machen, er&#x017F;cheint um &#x017F;o ange-<lb/>
me&#x017F;&#x017F;ener als        das Ver&#x017F;tändniß des Ge&#x017F;etzbuchs im Allgemeinen        dadurch<lb/>
we&#x017F;entlich gefördert werden dürfte.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. VI.</head><lb/>
            <argument>
              <p><hi rendition="#g">Das richterliche Erme&#x017F;&#x017F;en</hi>.</p>
            </argument><lb/>
            <p>Die freie Stellung, welche das Strafge&#x017F;etzbuch denjenigen einräumt,<lb/>
welche        mit der Handhabung der Strafrechtspflege betraut &#x017F;ind, i&#x017F;t        theils<lb/>
durch die Be&#x017F;chaffenheit der Gerichtsverfa&#x017F;&#x017F;ung        bedingt, welche jetzt bei<lb/>
uns die allgemein geltende geworden, theils i&#x017F;t        &#x017F;ie die nothwendige Folge<lb/>
der Ge&#x017F;ammtan&#x017F;chauung, welche        bei der Abfa&#x017F;&#x017F;ung des Ge&#x017F;etzbuchs<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0033] §. V. Syſtem und Charakter des Strafgeſetzbuchs. geber auszugehen hat, anzuſehen ſind, und deren Hineinziehen in das Geſetzbuch ſelbſt daſſelbe mit Gemeinplätzen oder mit einem ungefügigen wiſſenſchaftlichen Apparat belaſtet. Man iſt vielmehr mit dem beſtimm- ten Bewußtſein des Gegenſatzes gegen die ältere Geſetzgebung des Land- rechts darauf ausgegangen, die Aufgabe des Geſetzgebers nicht über ihre natürlichen Grenzen hinauszurücken, und hat es eines Theils vermie- den, in ein Gebiet der Vorſtellungen und Anſchauungen hinüberzugrei- fen, über welche der Geſetzgeber doch keine Macht hat, anderen Theils aber der Jurisprudenz in ihrer wiſſenſchaftlichen und praktiſchen Fort- bildung das Vertrauen erwieſen, die ihr zukommende Rechtsentwick- lung ihr auch zu überlaſſen und ſie nicht durch das ängſtliche Voraus- beſtimmenwollen alles Einzelnen unnöthiger Weiſe zu hemmen und zu beſchränken. Daß dieſe ganze Tendenz die richtige, und daß ſie im All- gemeinen mit Einſicht und Maaß verfolgt worden, unterliegt keinem Zweifel; ob nicht in einzelnen Fällen dieſe Beſcheidung des Geſetzgebers vielleicht etwas zu weit gegangen, z. B. §. 40 die Beſtimmungen über Ausſchließung der Strafe wegen Unzurechnungsfähigkeit zu fragmenta- riſch gefaßt ſind, wird ſpäter bei den beſonderen Erörterungen noch nä- her zu erwägen ſein. Gewiſſe Momente aber giebt es, an denen ſich das hier im All- gemeinen Angeführte klar und beſtimmt darlegen und zur Anſchauung bringen läßt, und für deren angemeſſene Berückſichtigung doch das Ge- ſetzbuch ſelbſt, eben wegen ſeiner bezeichneten Haltung, nicht die rechte Gelegenheit bietet. Es gehören dahin die Freiheit des richterlichen Er- meſſens, namentlich in Beziehung auf allgemeine Zumeſſungsgründe; die allgemeine Bedeutung der im Geſetz zugelaſſenen mildernden Umſtände; die allgemeinen Grundſätze über die Verſchuldung, namentlich über Vor- ſatz und Fahrläſſigkeit. Dieſe Lehren ſchon in der Einleitung zum Ge- genſtande einer näheren Erörterung zu machen, erſcheint um ſo ange- meſſener als das Verſtändniß des Geſetzbuchs im Allgemeinen dadurch weſentlich gefördert werden dürfte. §. VI. Das richterliche Ermeſſen. Die freie Stellung, welche das Strafgeſetzbuch denjenigen einräumt, welche mit der Handhabung der Strafrechtspflege betraut ſind, iſt theils durch die Beſchaffenheit der Gerichtsverfaſſung bedingt, welche jetzt bei uns die allgemein geltende geworden, theils iſt ſie die nothwendige Folge der Geſammtanſchauung, welche bei der Abfaſſung des Geſetzbuchs

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/33
Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/33>, abgerufen am 23.11.2024.