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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Viertes Kapitel.
früheren, von andern Ideen getragenen Zeit herüber, und sind
statt der sicheren Anschauung nur noch mehr oder weniger un-
klare Vorstellungen von ihrer eigentlichen Bedeutung geblieben:
da läßt sich aus dem Volksleben allein nicht mehr die volle
Rechtskunde schöpfen, und selbst die Wissenschaft mit allem
Apparate der historischen Forschung und der Entwicklung aus
der Vernunft der Dinge wird dann kaum vermögen, für das
geltende Recht
einen vollkommen ausgeführten und festen
Bau zu errichten.

So viel wird aber im Allgemeinen anzunehmen seyn,
daß die Art und Weise, wie man zur Erkenntniß des Volks-
rechts gelange, wenigstens dem Princip nach dieselbe seyn muß,
mag man dabei nun einen wissenschaftlichen oder einen beson-
deren practischen Zweck verfolgen. Jene Trennung einer eige-
nen germanistischen Methode und einer strengen Beweisfüh-
rung Behufs der Anwendung des Gewohnheitsrechts vor Ge-
richt hat, insofern das Volksrecht dabei in Betracht kommt,
keinen inneren Grund, und hat sich wohl nur deswegen so
lange erhalten, weil man theils dem wissenschaftlichen Ergeb-
niß der germanistischen Studien, die an sich noch weit davon
entfernt waren, den ganzen noch vorhandenen Rechtsstoff des
Volksrechts zum Verständniß und zur Anerkennung zu brin-
gen, kein rechtes Vertrauen abgewinnen konnte; theils aber un-
ter dem Gewohnheitsrecht nicht bloß wahres Volksrecht ver-
standen wurde, sondern auch manche durch die Länge der Zeit
zu Recht gewordene factische Zustände, wobei denn unter dem
Namen der Observanz auch wohl solche Verhältnisse herbeige-
zogen wurden, welche dem Recht im objectiven Sinne eigent-
lich gar nicht angehörten, und nur nach den Grundsätzen der
unvordenklichen Verjährung zu beurtheilen waren. Indem ich

Viertes Kapitel.
fruͤheren, von andern Ideen getragenen Zeit heruͤber, und ſind
ſtatt der ſicheren Anſchauung nur noch mehr oder weniger un-
klare Vorſtellungen von ihrer eigentlichen Bedeutung geblieben:
da laͤßt ſich aus dem Volksleben allein nicht mehr die volle
Rechtskunde ſchoͤpfen, und ſelbſt die Wiſſenſchaft mit allem
Apparate der hiſtoriſchen Forſchung und der Entwicklung aus
der Vernunft der Dinge wird dann kaum vermoͤgen, fuͤr das
geltende Recht
einen vollkommen ausgefuͤhrten und feſten
Bau zu errichten.

So viel wird aber im Allgemeinen anzunehmen ſeyn,
daß die Art und Weiſe, wie man zur Erkenntniß des Volks-
rechts gelange, wenigſtens dem Princip nach dieſelbe ſeyn muß,
mag man dabei nun einen wiſſenſchaftlichen oder einen beſon-
deren practiſchen Zweck verfolgen. Jene Trennung einer eige-
nen germaniſtiſchen Methode und einer ſtrengen Beweisfuͤh-
rung Behufs der Anwendung des Gewohnheitsrechts vor Ge-
richt hat, inſofern das Volksrecht dabei in Betracht kommt,
keinen inneren Grund, und hat ſich wohl nur deswegen ſo
lange erhalten, weil man theils dem wiſſenſchaftlichen Ergeb-
niß der germaniſtiſchen Studien, die an ſich noch weit davon
entfernt waren, den ganzen noch vorhandenen Rechtsſtoff des
Volksrechts zum Verſtaͤndniß und zur Anerkennung zu brin-
gen, kein rechtes Vertrauen abgewinnen konnte; theils aber un-
ter dem Gewohnheitsrecht nicht bloß wahres Volksrecht ver-
ſtanden wurde, ſondern auch manche durch die Laͤnge der Zeit
zu Recht gewordene factiſche Zuſtaͤnde, wobei denn unter dem
Namen der Obſervanz auch wohl ſolche Verhaͤltniſſe herbeige-
zogen wurden, welche dem Recht im objectiven Sinne eigent-
lich gar nicht angehoͤrten, und nur nach den Grundſaͤtzen der
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[116/0128] Viertes Kapitel. fruͤheren, von andern Ideen getragenen Zeit heruͤber, und ſind ſtatt der ſicheren Anſchauung nur noch mehr oder weniger un- klare Vorſtellungen von ihrer eigentlichen Bedeutung geblieben: da laͤßt ſich aus dem Volksleben allein nicht mehr die volle Rechtskunde ſchoͤpfen, und ſelbſt die Wiſſenſchaft mit allem Apparate der hiſtoriſchen Forſchung und der Entwicklung aus der Vernunft der Dinge wird dann kaum vermoͤgen, fuͤr das geltende Recht einen vollkommen ausgefuͤhrten und feſten Bau zu errichten. So viel wird aber im Allgemeinen anzunehmen ſeyn, daß die Art und Weiſe, wie man zur Erkenntniß des Volks- rechts gelange, wenigſtens dem Princip nach dieſelbe ſeyn muß, mag man dabei nun einen wiſſenſchaftlichen oder einen beſon- deren practiſchen Zweck verfolgen. Jene Trennung einer eige- nen germaniſtiſchen Methode und einer ſtrengen Beweisfuͤh- rung Behufs der Anwendung des Gewohnheitsrechts vor Ge- richt hat, inſofern das Volksrecht dabei in Betracht kommt, keinen inneren Grund, und hat ſich wohl nur deswegen ſo lange erhalten, weil man theils dem wiſſenſchaftlichen Ergeb- niß der germaniſtiſchen Studien, die an ſich noch weit davon entfernt waren, den ganzen noch vorhandenen Rechtsſtoff des Volksrechts zum Verſtaͤndniß und zur Anerkennung zu brin- gen, kein rechtes Vertrauen abgewinnen konnte; theils aber un- ter dem Gewohnheitsrecht nicht bloß wahres Volksrecht ver- ſtanden wurde, ſondern auch manche durch die Laͤnge der Zeit zu Recht gewordene factiſche Zuſtaͤnde, wobei denn unter dem Namen der Obſervanz auch wohl ſolche Verhaͤltniſſe herbeige- zogen wurden, welche dem Recht im objectiven Sinne eigent- lich gar nicht angehoͤrten, und nur nach den Grundſaͤtzen der unvordenklichen Verjaͤhrung zu beurtheilen waren. Indem ich

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/128>, abgerufen am 19.05.2024.