Neuntes Kapitel. Das Volksrecht in seinem Verhältniß zu dem Gerichtswesen.
Wie überhaupt die verschiedenen Institutionen, in denen sich das Rechtsleben eines Volkes darstellt, mit einer fort- dauernden Wechselwirkung in einander übergreifen, und von denselben allgemeinen Ideen beherrscht, sich gegenseitig voraus- setzen und bedingen; so verhält es sich auch mit dem Gerichts- wesen in seiner Beziehung zu dem gesammten positiven Rechte und zu dessen einzelnen Theilen. Es kommt hier nicht bloß die eigentliche Staatsverfassung in Betracht, mit welcher die Verfassung der Gerichte in der nächsten Verbindung steht, ja zu der sie, wenigstens ihren Grundzügen nach, unmittelbar ge- rechnet werden kann; sondern der allgemeine Charakter, der in einem bestimmten Rechte ausgeprägt ist, wird sich auch, wenn nicht ganz besondere Umstände eingewirkt haben, bei der Ge- richtsverfassung und dem gerichtlichen Verfahren finden, und deren Beschaffenheit bestimmen. Dadurch wird nun aber eine Mannichfaltigkeit der Rechtsbildung möglich, welche nicht bloß in den eigenthümlichen Sitten und Einrichtungen der Völker, also überhaupt in der Nationalität ihren Grund hat, sondern auch von den verschiedenen Entwicklungsperioden, in denen sich das Recht eines Volkes befinden kann, abhängt. Denn je nachdem die Kunde desselben mehr oder weniger allgemein verbreitet ist, oder sich nur im Besitze eines besonderen Juri- stenstandes befindet, werden auch die Organisation und die
Neuntes Kapitel. Das Volksrecht in ſeinem Verhaͤltniß zu dem Gerichtsweſen.
Wie uͤberhaupt die verſchiedenen Inſtitutionen, in denen ſich das Rechtsleben eines Volkes darſtellt, mit einer fort- dauernden Wechſelwirkung in einander uͤbergreifen, und von denſelben allgemeinen Ideen beherrſcht, ſich gegenſeitig voraus- ſetzen und bedingen; ſo verhaͤlt es ſich auch mit dem Gerichts- weſen in ſeiner Beziehung zu dem geſammten poſitiven Rechte und zu deſſen einzelnen Theilen. Es kommt hier nicht bloß die eigentliche Staatsverfaſſung in Betracht, mit welcher die Verfaſſung der Gerichte in der naͤchſten Verbindung ſteht, ja zu der ſie, wenigſtens ihren Grundzuͤgen nach, unmittelbar ge- rechnet werden kann; ſondern der allgemeine Charakter, der in einem beſtimmten Rechte ausgepraͤgt iſt, wird ſich auch, wenn nicht ganz beſondere Umſtaͤnde eingewirkt haben, bei der Ge- richtsverfaſſung und dem gerichtlichen Verfahren finden, und deren Beſchaffenheit beſtimmen. Dadurch wird nun aber eine Mannichfaltigkeit der Rechtsbildung moͤglich, welche nicht bloß in den eigenthuͤmlichen Sitten und Einrichtungen der Voͤlker, alſo uͤberhaupt in der Nationalitaͤt ihren Grund hat, ſondern auch von den verſchiedenen Entwicklungsperioden, in denen ſich das Recht eines Volkes befinden kann, abhaͤngt. Denn je nachdem die Kunde deſſelben mehr oder weniger allgemein verbreitet iſt, oder ſich nur im Beſitze eines beſonderen Juri- ſtenſtandes befindet, werden auch die Organiſation und die
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[[246]/0258]
Neuntes Kapitel.
Das Volksrecht in ſeinem Verhaͤltniß zu dem
Gerichtsweſen.
Wie uͤberhaupt die verſchiedenen Inſtitutionen, in denen
ſich das Rechtsleben eines Volkes darſtellt, mit einer fort-
dauernden Wechſelwirkung in einander uͤbergreifen, und von
denſelben allgemeinen Ideen beherrſcht, ſich gegenſeitig voraus-
ſetzen und bedingen; ſo verhaͤlt es ſich auch mit dem Gerichts-
weſen in ſeiner Beziehung zu dem geſammten poſitiven Rechte
und zu deſſen einzelnen Theilen. Es kommt hier nicht bloß
die eigentliche Staatsverfaſſung in Betracht, mit welcher die
Verfaſſung der Gerichte in der naͤchſten Verbindung ſteht, ja
zu der ſie, wenigſtens ihren Grundzuͤgen nach, unmittelbar ge-
rechnet werden kann; ſondern der allgemeine Charakter, der in
einem beſtimmten Rechte ausgepraͤgt iſt, wird ſich auch, wenn
nicht ganz beſondere Umſtaͤnde eingewirkt haben, bei der Ge-
richtsverfaſſung und dem gerichtlichen Verfahren finden, und
deren Beſchaffenheit beſtimmen. Dadurch wird nun aber eine
Mannichfaltigkeit der Rechtsbildung moͤglich, welche nicht bloß
in den eigenthuͤmlichen Sitten und Einrichtungen der Voͤlker,
alſo uͤberhaupt in der Nationalitaͤt ihren Grund hat, ſondern
auch von den verſchiedenen Entwicklungsperioden, in denen
ſich das Recht eines Volkes befinden kann, abhaͤngt. Denn
je nachdem die Kunde deſſelben mehr oder weniger allgemein
verbreitet iſt, oder ſich nur im Beſitze eines beſonderen Juri-
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. [246]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/258>, abgerufen am 22.11.2024.
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