Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Kapitel.
Hände der Landesherrn übergegangen war. So fand das
Recht in den Volksgerichten noch sein natürliches Organ, durch
welches es auf eine dem Bedürfniß entsprechende Weise ge-
handhabt ward. Man braucht nur die Schöffenurtheile und
Weisthümer aus dem 15. und dem Anfang des 16. Jahr-
hunderts, von denen gerade in neuester Zeit manche interes-
sante Sammlungen veröffentlicht sind, zu betrachten, um sich
zu überzeugen, wie lebendig das Recht noch im Volke war,
und mit welcher Sicherheit und Gewandheit die Schöffen es
anzuwenden wußten. Denselben Eindruck machen die zahlrei-
chen Statute, welche namentlich aus dem 15. Jahrhundert er-
halten worden sind, und welche es bezeugen, daß man wich-
tige Institute des geltenden Rechts klar und bestimmt aufzu-
fassen und festzustellen wußte. -- Aber diesen erfreulichen Er-
scheinungen ist doch auch kein zu hoher Werth beizulegen;
denn sie beweisen nur, daß das deutsche Volksleben in seiner
corporativen Vereinzelung noch eine kerngesunde Natur hatte,
und daß es in dieser Beschränkung seine Tüchtigkeit bewährte.
Ist es nun eine alte Wahrheit, daß die Gesundheit eines or-
ganischen Wesens nicht bloß von der Beschaffenheit der einzel-
nen Glieder, sondern vor Allem von dem Gesammtorganismus
und dessen Befinden abhängt, und daß hier der eigentliche Sitz
der Lebenskraft ist; so kann auch der damalige Zustand des
deutschen Volkes, dessen Reichsverfassung ganz und gar zer-
rüttet war, unmöglich sich als befriedigend herausstellen. Es
fehlte ja eben, wie wir gesehen haben, an einem festen politi-
schen Mittelpuncte, an welchen sich die nationale Entwicklung
hätte ansetzen können; bei Kaiser und Reich war nicht die ge-
hörige Macht, um Recht und Ordnung kräftig zu schützen;
jeder Theil sorgte zunächst für sich selbst, und war, wollte er

Erſtes Kapitel.
Haͤnde der Landesherrn uͤbergegangen war. So fand das
Recht in den Volksgerichten noch ſein natuͤrliches Organ, durch
welches es auf eine dem Beduͤrfniß entſprechende Weiſe ge-
handhabt ward. Man braucht nur die Schoͤffenurtheile und
Weisthuͤmer aus dem 15. und dem Anfang des 16. Jahr-
hunderts, von denen gerade in neueſter Zeit manche intereſ-
ſante Sammlungen veroͤffentlicht ſind, zu betrachten, um ſich
zu uͤberzeugen, wie lebendig das Recht noch im Volke war,
und mit welcher Sicherheit und Gewandheit die Schoͤffen es
anzuwenden wußten. Denſelben Eindruck machen die zahlrei-
chen Statute, welche namentlich aus dem 15. Jahrhundert er-
halten worden ſind, und welche es bezeugen, daß man wich-
tige Inſtitute des geltenden Rechts klar und beſtimmt aufzu-
faſſen und feſtzuſtellen wußte. — Aber dieſen erfreulichen Er-
ſcheinungen iſt doch auch kein zu hoher Werth beizulegen;
denn ſie beweiſen nur, daß das deutſche Volksleben in ſeiner
corporativen Vereinzelung noch eine kerngeſunde Natur hatte,
und daß es in dieſer Beſchraͤnkung ſeine Tuͤchtigkeit bewaͤhrte.
Iſt es nun eine alte Wahrheit, daß die Geſundheit eines or-
ganiſchen Weſens nicht bloß von der Beſchaffenheit der einzel-
nen Glieder, ſondern vor Allem von dem Geſammtorganismus
und deſſen Befinden abhaͤngt, und daß hier der eigentliche Sitz
der Lebenskraft iſt; ſo kann auch der damalige Zuſtand des
deutſchen Volkes, deſſen Reichsverfaſſung ganz und gar zer-
ruͤttet war, unmoͤglich ſich als befriedigend herausſtellen. Es
fehlte ja eben, wie wir geſehen haben, an einem feſten politi-
ſchen Mittelpuncte, an welchen ſich die nationale Entwicklung
haͤtte anſetzen koͤnnen; bei Kaiſer und Reich war nicht die ge-
hoͤrige Macht, um Recht und Ordnung kraͤftig zu ſchuͤtzen;
jeder Theil ſorgte zunaͤchſt fuͤr ſich ſelbſt, und war, wollte er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0038" n="26"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;tes Kapitel</hi>.</fw><lb/>
Ha&#x0364;nde der Landesherrn u&#x0364;bergegangen war. So fand das<lb/>
Recht in den Volksgerichten noch &#x017F;ein natu&#x0364;rliches Organ, durch<lb/>
welches es auf eine dem Bedu&#x0364;rfniß ent&#x017F;prechende Wei&#x017F;e ge-<lb/>
handhabt ward. Man braucht nur die Scho&#x0364;ffenurtheile und<lb/>
Weisthu&#x0364;mer aus dem 15. und dem Anfang des 16. Jahr-<lb/>
hunderts, von denen gerade in neue&#x017F;ter Zeit manche intere&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ante Sammlungen vero&#x0364;ffentlicht &#x017F;ind, zu betrachten, um &#x017F;ich<lb/>
zu u&#x0364;berzeugen, wie lebendig das Recht noch im Volke war,<lb/>
und mit welcher Sicherheit und Gewandheit die Scho&#x0364;ffen es<lb/>
anzuwenden wußten. Den&#x017F;elben Eindruck machen die zahlrei-<lb/>
chen Statute, welche namentlich aus dem 15. Jahrhundert er-<lb/>
halten worden &#x017F;ind, und welche es bezeugen, daß man wich-<lb/>
tige In&#x017F;titute des geltenden Rechts klar und be&#x017F;timmt aufzu-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en und fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen wußte. &#x2014; Aber die&#x017F;en erfreulichen Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen i&#x017F;t doch auch kein zu hoher Werth beizulegen;<lb/>
denn &#x017F;ie bewei&#x017F;en nur, daß das deut&#x017F;che Volksleben in &#x017F;einer<lb/>
corporativen Vereinzelung noch eine kernge&#x017F;unde Natur hatte,<lb/>
und daß es in die&#x017F;er Be&#x017F;chra&#x0364;nkung &#x017F;eine Tu&#x0364;chtigkeit bewa&#x0364;hrte.<lb/>
I&#x017F;t es nun eine alte Wahrheit, daß die Ge&#x017F;undheit eines or-<lb/>
gani&#x017F;chen We&#x017F;ens nicht bloß von der Be&#x017F;chaffenheit der einzel-<lb/>
nen Glieder, &#x017F;ondern vor Allem von dem Ge&#x017F;ammtorganismus<lb/>
und de&#x017F;&#x017F;en Befinden abha&#x0364;ngt, und daß hier der eigentliche Sitz<lb/>
der Lebenskraft i&#x017F;t; &#x017F;o kann auch der damalige Zu&#x017F;tand des<lb/>
deut&#x017F;chen Volkes, de&#x017F;&#x017F;en Reichsverfa&#x017F;&#x017F;ung ganz und gar zer-<lb/>
ru&#x0364;ttet war, unmo&#x0364;glich &#x017F;ich als befriedigend heraus&#x017F;tellen. Es<lb/>
fehlte ja eben, wie wir ge&#x017F;ehen haben, an einem fe&#x017F;ten politi-<lb/>
&#x017F;chen Mittelpuncte, an welchen &#x017F;ich die nationale Entwicklung<lb/>
ha&#x0364;tte an&#x017F;etzen ko&#x0364;nnen; bei Kai&#x017F;er und Reich war nicht die ge-<lb/>
ho&#x0364;rige Macht, um Recht und Ordnung kra&#x0364;ftig zu &#x017F;chu&#x0364;tzen;<lb/>
jeder Theil &#x017F;orgte zuna&#x0364;ch&#x017F;t fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, und war, wollte er<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0038] Erſtes Kapitel. Haͤnde der Landesherrn uͤbergegangen war. So fand das Recht in den Volksgerichten noch ſein natuͤrliches Organ, durch welches es auf eine dem Beduͤrfniß entſprechende Weiſe ge- handhabt ward. Man braucht nur die Schoͤffenurtheile und Weisthuͤmer aus dem 15. und dem Anfang des 16. Jahr- hunderts, von denen gerade in neueſter Zeit manche intereſ- ſante Sammlungen veroͤffentlicht ſind, zu betrachten, um ſich zu uͤberzeugen, wie lebendig das Recht noch im Volke war, und mit welcher Sicherheit und Gewandheit die Schoͤffen es anzuwenden wußten. Denſelben Eindruck machen die zahlrei- chen Statute, welche namentlich aus dem 15. Jahrhundert er- halten worden ſind, und welche es bezeugen, daß man wich- tige Inſtitute des geltenden Rechts klar und beſtimmt aufzu- faſſen und feſtzuſtellen wußte. — Aber dieſen erfreulichen Er- ſcheinungen iſt doch auch kein zu hoher Werth beizulegen; denn ſie beweiſen nur, daß das deutſche Volksleben in ſeiner corporativen Vereinzelung noch eine kerngeſunde Natur hatte, und daß es in dieſer Beſchraͤnkung ſeine Tuͤchtigkeit bewaͤhrte. Iſt es nun eine alte Wahrheit, daß die Geſundheit eines or- ganiſchen Weſens nicht bloß von der Beſchaffenheit der einzel- nen Glieder, ſondern vor Allem von dem Geſammtorganismus und deſſen Befinden abhaͤngt, und daß hier der eigentliche Sitz der Lebenskraft iſt; ſo kann auch der damalige Zuſtand des deutſchen Volkes, deſſen Reichsverfaſſung ganz und gar zer- ruͤttet war, unmoͤglich ſich als befriedigend herausſtellen. Es fehlte ja eben, wie wir geſehen haben, an einem feſten politi- ſchen Mittelpuncte, an welchen ſich die nationale Entwicklung haͤtte anſetzen koͤnnen; bei Kaiſer und Reich war nicht die ge- hoͤrige Macht, um Recht und Ordnung kraͤftig zu ſchuͤtzen; jeder Theil ſorgte zunaͤchſt fuͤr ſich ſelbſt, und war, wollte er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/38
Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/38>, abgerufen am 23.11.2024.