p1b_086.001 des Anstands und der Scham erhaben. (Jch erinnere an unbekleidete Statuen p1b_086.002 im Gegensatz zu unbekleideten Menschen.) Mit Recht trennt man in der Kunst p1b_086.003 das Ästhetische vom Ethischen. Man verdammt - um dies durch Beispiele p1b_086.004 zu erhärten - Schillers Räuber nicht mehr als verbrecherische p1b_086.005 Dichterverirrung; man streitet nicht mehr über Jnhalt und Form der Wahlverwandtschaften p1b_086.006 Goethes; man nimmt keinen Anstoß mehr am Nackten p1b_086.007 in der Plastik und in der Malerei (was bekanntlich unter Mühler in Preußen vergebens p1b_086.008 versucht wurde); man verlacht dagegen den Feigenblattkultus Ungebildeter p1b_086.009 und betritt so immer mehr den idealen, rein ästhetischen Standpunkt der Trennung p1b_086.010 des Ästhetischen vom Ethischen, indem man das Ethische zwar nicht verkennt, p1b_086.011 wohl aber demselben sein eigenartiges Gebiet anweist.
p1b_086.012 § 23. Das Charakteristische im Schönen.
p1b_086.013 Wie das Zufällige als Gesetz im Schönen zu beachten ist, wenn p1b_086.014 nicht das Kunstwerk tot, mechanisch sein soll, so muß das Schöne auch p1b_086.015 charakteristisch sein, wenn es eigenartig ergreifen soll.
p1b_086.016 Für das Charakteristische im Schönen kommt 1) der Ausdruck desselben p1b_086.017 im Stil, 2) die Aufnahme und Auffassung im Geschmackp1b_086.018 und 3) das schöpferische individuelle Hervorbringen in Betracht.
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p1b_086.020 Das Schöne kann man nicht absolut wägen, bestimmen oder messen, p1b_086.021 da jede Schönheitsgattung verschiedene Stufen durchläuft und auf jeder Stufe p1b_086.022 die sinnliche Gestalt sich ändert, somit auch die Zufälligkeit wächst und sich verändert. p1b_086.023 Da aber nicht ein Wesen, nicht ein organisches Gebilde, nicht einp1b_086.024 Schönheitsmotiv, sofern es als Stoff entgegentritt, dem andern gleich ist, so p1b_086.025 folgt daraus, daß jedes Schöne charakteristisch sein muß.
p1b_086.026 1. Der Stil.
p1b_086.027 Der charakteristische Ausdruck des Schönen kann als Stil bezeichnet p1b_086.028 werden. Die reinen Stilarten erreichen das vorgesteckte Ziel p1b_086.029 und befriedigen, die unreinen nicht.
p1b_086.030 Zu den unreinen, ästhetisch nicht befriedigenden, ja, nicht faßlichen Stilarten p1b_086.031 z. B. in der Poesie gehört es, wenn das Dramatische episch breit erzählt, p1b_086.032 wenn das Lyrische deskriptiv malend ist, wenn das Epische das subjektive p1b_086.033 Gefühl des Dichters zeigt &c. Wie der bestimmte Stoff für eine bestimmte p1b_086.034 Dichtung, so hat überhaupt jeder Stoff seinen besonderen Ausdruck und Stil. p1b_086.035 Der Marmor des Bildhauers hat einen andern Stil als der Sandstein, Eisen p1b_086.036 einen andern Stil als Gips. Nach dem Stil richtet sich die eigenartige Arbeit p1b_086.037 bei Erzeugung eines Kunstwerks. (Auch im Staate können die Menschen als p1b_086.038 Stoff für gewisse Formen - die ja hier keine Schönheitsformen zu sein brauchen p1b_086.039 - betrachtet werden. Je nachdem der Gesetzgeber die Menschen als willenloses p1b_086.040 Material oder als ein mit Rechten ausgestattetes betrachtet, wird die
p1b_086.001 des Anstands und der Scham erhaben. (Jch erinnere an unbekleidete Statuen p1b_086.002 im Gegensatz zu unbekleideten Menschen.) Mit Recht trennt man in der Kunst p1b_086.003 das Ästhetische vom Ethischen. Man verdammt ─ um dies durch Beispiele p1b_086.004 zu erhärten ─ Schillers Räuber nicht mehr als verbrecherische p1b_086.005 Dichterverirrung; man streitet nicht mehr über Jnhalt und Form der Wahlverwandtschaften p1b_086.006 Goethes; man nimmt keinen Anstoß mehr am Nackten p1b_086.007 in der Plastik und in der Malerei (was bekanntlich unter Mühler in Preußen vergebens p1b_086.008 versucht wurde); man verlacht dagegen den Feigenblattkultus Ungebildeter p1b_086.009 und betritt so immer mehr den idealen, rein ästhetischen Standpunkt der Trennung p1b_086.010 des Ästhetischen vom Ethischen, indem man das Ethische zwar nicht verkennt, p1b_086.011 wohl aber demselben sein eigenartiges Gebiet anweist.
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p1b_086.013 Wie das Zufällige als Gesetz im Schönen zu beachten ist, wenn p1b_086.014 nicht das Kunstwerk tot, mechanisch sein soll, so muß das Schöne auch p1b_086.015 charakteristisch sein, wenn es eigenartig ergreifen soll.
p1b_086.016 Für das Charakteristische im Schönen kommt 1) der Ausdruck desselben p1b_086.017 im Stil, 2) die Aufnahme und Auffassung im Geschmackp1b_086.018 und 3) das schöpferische individuelle Hervorbringen in Betracht.
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p1b_086.020 Das Schöne kann man nicht absolut wägen, bestimmen oder messen, p1b_086.021 da jede Schönheitsgattung verschiedene Stufen durchläuft und auf jeder Stufe p1b_086.022 die sinnliche Gestalt sich ändert, somit auch die Zufälligkeit wächst und sich verändert. p1b_086.023 Da aber nicht ein Wesen, nicht ein organisches Gebilde, nicht einp1b_086.024 Schönheitsmotiv, sofern es als Stoff entgegentritt, dem andern gleich ist, so p1b_086.025 folgt daraus, daß jedes Schöne charakteristisch sein muß.
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p1b_086.027 Der charakteristische Ausdruck des Schönen kann als Stil bezeichnet p1b_086.028 werden. Die reinen Stilarten erreichen das vorgesteckte Ziel p1b_086.029 und befriedigen, die unreinen nicht.
p1b_086.030 Zu den unreinen, ästhetisch nicht befriedigenden, ja, nicht faßlichen Stilarten p1b_086.031 z. B. in der Poesie gehört es, wenn das Dramatische episch breit erzählt, p1b_086.032 wenn das Lyrische deskriptiv malend ist, wenn das Epische das subjektive p1b_086.033 Gefühl des Dichters zeigt &c. Wie der bestimmte Stoff für eine bestimmte p1b_086.034 Dichtung, so hat überhaupt jeder Stoff seinen besonderen Ausdruck und Stil. p1b_086.035 Der Marmor des Bildhauers hat einen andern Stil als der Sandstein, Eisen p1b_086.036 einen andern Stil als Gips. Nach dem Stil richtet sich die eigenartige Arbeit p1b_086.037 bei Erzeugung eines Kunstwerks. (Auch im Staate können die Menschen als p1b_086.038 Stoff für gewisse Formen ─ die ja hier keine Schönheitsformen zu sein brauchen p1b_086.039 ─ betrachtet werden. Je nachdem der Gesetzgeber die Menschen als willenloses p1b_086.040 Material oder als ein mit Rechten ausgestattetes betrachtet, wird die
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Für das Charakteristische im Schönen kommt 1) der Ausdruck desselben p1b_086.017
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Der charakteristische Ausdruck des Schönen kann als Stil bezeichnet p1b_086.028
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z. B. in der Poesie gehört es, wenn das Dramatische episch breit erzählt, p1b_086.032
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/120>, abgerufen am 21.11.2024.
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