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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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anfänglich auf unsere Anschauung niederdrückend; von der ästhetischen p1b_094.002
Empfindung desselben ist ein Gefühl eigener Kleinheit und Unbedeutendheit p1b_094.003
nicht zu trennen. Erst dann wird man zum Genuß des Erhabenen p1b_094.004
in seiner reinen Schönheit befähigt, wenn man sich vom Gefühle der p1b_094.005
Beklemmung und der physischen Furcht frei gemacht hat, um die Größe p1b_094.006
der Erscheinung des Erhabenen objektiv und ruhig der Anschauung p1b_094.007
vermählen zu können.

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2. Das Erhabene hat mehrere Unterarten, von denen das Tragische p1b_094.009
als Gegensatz der übrigen aufgefaßt wurde.

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1. Man kann das Erhabene, welches physischer, moralischer und intellektueller p1b_094.011
Natur sein kann, einteilen in das Mathematisch-Erhabene und (mit p1b_094.012
Rücksicht auf Kraft) in das Dynamisch-Erhabene. Erhaben ist der p1b_094.013
allmächtige, aber liebende Christengott; furchtbar der zürnende Judengott, welch' p1b_094.014
letzterem gegenüber der Mensch Sklave ist. Der Griechengott ist erhaben, denn p1b_094.015
wenn er auch die Welt erschüttern kann, so bedeutet doch der Olymp die p1b_094.016
Ruhe, und das Maß thront auf seinem Götterantlitze. Man denke an den p1b_094.017
von Phidias dargestellten olympischen Zeus. Der Donner, dessen Maß gegeben p1b_094.018
ist, wirkt erhaben; eine Dynamitexplosion ist wegen ihrer maßlosen, vernichtenden p1b_094.019
Wirkung furchtbar. Eine Dichtung, insoferne sie Erstaunen, Ehrfurcht, p1b_094.020
Bewunderung &c. hervorruft, ist erhaben. Ein Hymnus, der die Größe p1b_094.021
Gottes besingt, erzeugt das Gefühl des Erhabenen. Erhaben ist, aus der Ferne p1b_094.022
gesehen, ein feuerspeiender Berg, erhaben ist die Unendlichkeit des ruhigen Oceans, p1b_094.023
der unermeßliche Weltenraum, ein Gletscher, ein gewaltiger Wasserfall (z. B. der p1b_094.024
Rheinfall), der gestirnte Himmel mit Fixsternen; ebenso ein riesiger, überhängender, p1b_094.025
den Einsturz drohender Berg, sofern ich mir die Kraft vergegenwärtige, mit der p1b_094.026
er niederstürzen muß. Erhaben ist die Weltregierung, erhaben können Menschenwerke p1b_094.027
sein, z. B. der Kölner Dom, die Mailänder Kathedrale, die ägyptischen p1b_094.028
Pyramiden. Erhaben ist der mit Riesengewalt kämpfende König Richard III., p1b_094.029
ebenso Julius Cäsar, der beim Seesturm dem erblassenden Steuermann imponierend p1b_094.030
zuruft: "Du fährst Cäsar und sein Glück!"

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Wer nicht den Trieb fühlt, sich zum Erhabenen emporzuschwingen oder p1b_094.032
zum mindesten es zu begreifen, der wird "es in den Staub zu ziehen suchen". p1b_094.033
(Vgl.: Mephistopheles im Faust, Jago im Othello, Gottfried Kinkels "Cäsar".)

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Beispiel des Erhabenen:

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Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt, p1b_094.036
Wie auch der menschliche wanke; p1b_094.037
Hoch über der Zeit und dem Raume webt p1b_094.038
Lebendig der höchste Gedanke, p1b_094.039
Und ob Alles in ewigem Wechsel kreist, p1b_094.040
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.
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(Aus "Die Worte des Glaubens" von Schiller.)

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Kant hat das Erhabene zuerst in seiner Kritik der Urteilskraft erörtert. p1b_094.043
Nach ihm Schiller, Hegel, Vischer. Letzterer weicht von allen dadurch ab, daß

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/128>, abgerufen am 21.11.2024.