Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_201.001 p2b_201.013 p2b_201.022 Die sterbende Blume, von Rückert. p2b_201.024 Hoffe! du erlebst es noch, p2b_201.025 Daß der Frühling wiederkehrt. p2b_201.026 Hoffen alle Bäume doch, p2b_201.027 Die des Herbstes Wind verheert, p2b_201.028 Hoffen mit der stillen Kraft p2b_201.029 Jhrer Knospen winterlang, p2b_201.030 Bis sich wieder regt der Saft, p2b_201.031 Und ein neues Grün entsprang. - p2b_201.032 "Ach, ich bin kein starker Baum, p2b_201.033 Der ein Sommertausend lebt, p2b_201.034 Nach verträumtem Wintertraum p2b_201.035 Neue Lenzgedichte webt. p2b_201.036 Ach, ich bin die Blume nur, p2b_201.037 Die des Maies Kuß geweckt, p2b_201.038 Und von der nicht bleibt die Spur p2b_201.039 Wie das weiße Grab sie deckt." - p2b_201.040
Wenn du denn die Blume bist, p2b_201.041 O bescheidenes Gemüt, p2b_201.042 Tröste dich, beschieden ist p2b_201.043 Samen allem, was da blüht. p2b_201.044 Laß den Sturm des Todes doch p2b_201.045 Deinen Lebensstaub verstreu'n, p2b_201.001 p2b_201.013 p2b_201.022 Die sterbende Blume, von Rückert. p2b_201.024 Hoffe! du erlebst es noch, p2b_201.025 Daß der Frühling wiederkehrt. p2b_201.026 Hoffen alle Bäume doch, p2b_201.027 Die des Herbstes Wind verheert, p2b_201.028 Hoffen mit der stillen Kraft p2b_201.029 Jhrer Knospen winterlang, p2b_201.030 Bis sich wieder regt der Saft, p2b_201.031 Und ein neues Grün entsprang. ─ p2b_201.032 „Ach, ich bin kein starker Baum, p2b_201.033 Der ein Sommertausend lebt, p2b_201.034 Nach verträumtem Wintertraum p2b_201.035 Neue Lenzgedichte webt. p2b_201.036 Ach, ich bin die Blume nur, p2b_201.037 Die des Maies Kuß geweckt, p2b_201.038 Und von der nicht bleibt die Spur p2b_201.039 Wie das weiße Grab sie deckt.“ ─ p2b_201.040
Wenn du denn die Blume bist, p2b_201.041 O bescheidenes Gemüt, p2b_201.042 Tröste dich, beschieden ist p2b_201.043 Samen allem, was da blüht. p2b_201.044 Laß den Sturm des Todes doch p2b_201.045 Deinen Lebensstaub verstreu'n, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0223" n="201"/><lb n="p2b_201.001"/> seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern. <lb n="p2b_201.002"/> Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch <lb n="p2b_201.003"/> das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer <lb n="p2b_201.004"/> Form, fortbesteht. <hi rendition="#g">Jn der That ein didaktisches Moment von hoher <lb n="p2b_201.005"/> idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der <lb n="p2b_201.006"/> idealen Gedankenlyrik hebt.</hi> „Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich <lb n="p2b_201.007"/> des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte; <lb n="p2b_201.008"/> der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, <lb n="p2b_201.009"/> die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen; <lb n="p2b_201.010"/> das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für <lb n="p2b_201.011"/> den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch <lb n="p2b_201.012"/> fühlenden Dichters würdig.</p> <p><lb n="p2b_201.013"/> Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten <lb n="p2b_201.014"/> Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht <lb n="p2b_201.015"/> einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur <lb n="p2b_201.016"/> Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern, <lb n="p2b_201.017"/> die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen <lb n="p2b_201.018"/> haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen <lb n="p2b_201.019"/> Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen <lb n="p2b_201.020"/> Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der <lb n="p2b_201.021"/> Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten.</p> <p> <lb n="p2b_201.022"/> <hi rendition="#g">Beispiel der idealen Gedankenlyrik.</hi> </p> <lb n="p2b_201.023"/> <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Die sterbende Blume, von Rückert.</hi> </hi> </p> <lb n="p2b_201.024"/> <lg> <l> Hoffe! du erlebst es noch,</l> <lb n="p2b_201.025"/> <l>Daß der Frühling wiederkehrt.</l> <lb n="p2b_201.026"/> <l>Hoffen alle Bäume doch,</l> <lb n="p2b_201.027"/> <l>Die des Herbstes Wind verheert,</l> <lb n="p2b_201.028"/> <l>Hoffen mit der stillen Kraft</l> <lb n="p2b_201.029"/> <l>Jhrer Knospen winterlang,</l> <lb n="p2b_201.030"/> <l>Bis sich wieder regt der Saft,</l> <lb n="p2b_201.031"/> <l>Und ein neues Grün entsprang. ─ </l> </lg> <lg> <lb n="p2b_201.032"/> <l> „Ach, ich bin kein starker Baum,</l> <lb n="p2b_201.033"/> <l>Der ein Sommertausend lebt,</l> <lb n="p2b_201.034"/> <l>Nach verträumtem Wintertraum</l> <lb n="p2b_201.035"/> <l>Neue Lenzgedichte webt.</l> <lb n="p2b_201.036"/> <l>Ach, ich bin die Blume nur,</l> <lb n="p2b_201.037"/> <l>Die des Maies Kuß geweckt,</l> <lb n="p2b_201.038"/> <l>Und von der nicht bleibt die Spur</l> <lb n="p2b_201.039"/> <l>Wie das weiße Grab sie deckt.“ ─ </l> </lg> <lg> <lb n="p2b_201.040"/> <l> Wenn du denn die Blume bist,</l> <lb n="p2b_201.041"/> <l>O bescheidenes Gemüt,</l> <lb n="p2b_201.042"/> <l>Tröste dich, beschieden ist</l> <lb n="p2b_201.043"/> <l>Samen allem, was da blüht.</l> <lb n="p2b_201.044"/> <l>Laß den Sturm des Todes doch</l> <lb n="p2b_201.045"/> <l>Deinen Lebensstaub verstreu'n,</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [201/0223]
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seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern. p2b_201.002
Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch p2b_201.003
das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer p2b_201.004
Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher p2b_201.005
idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der p2b_201.006
idealen Gedankenlyrik hebt. „Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich p2b_201.007
des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte; p2b_201.008
der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, p2b_201.009
die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen; p2b_201.010
das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für p2b_201.011
den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch p2b_201.012
fühlenden Dichters würdig.
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Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten p2b_201.014
Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht p2b_201.015
einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur p2b_201.016
Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern, p2b_201.017
die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen p2b_201.018
haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen p2b_201.019
Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen p2b_201.020
Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der p2b_201.021
Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten.
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Beispiel der idealen Gedankenlyrik.
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Die sterbende Blume, von Rückert.
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Hoffe! du erlebst es noch, p2b_201.025
Daß der Frühling wiederkehrt. p2b_201.026
Hoffen alle Bäume doch, p2b_201.027
Die des Herbstes Wind verheert, p2b_201.028
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Und ein neues Grün entsprang. ─
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„Ach, ich bin kein starker Baum, p2b_201.033
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Nach verträumtem Wintertraum p2b_201.035
Neue Lenzgedichte webt. p2b_201.036
Ach, ich bin die Blume nur, p2b_201.037
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Und von der nicht bleibt die Spur p2b_201.039
Wie das weiße Grab sie deckt.“ ─
p2b_201.040
Wenn du denn die Blume bist, p2b_201.041
O bescheidenes Gemüt, p2b_201.042
Tröste dich, beschieden ist p2b_201.043
Samen allem, was da blüht. p2b_201.044
Laß den Sturm des Todes doch p2b_201.045
Deinen Lebensstaub verstreu'n,
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