Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_215.001 p2b_215.020Und er doch nicht verschwindet, besinnt sie sich endlich auf's Wahre. p2b_215.002 p2b_215.010Und dann muß sie vom Bett, und muß neugierig in's Glas schaun. p2b_215.003 Möcht ich selber der Spiegel doch sein, daß in mir sie sich schaute! p2b_215.004 Geht sie nun doch auf den Markt, da bereits der Spiegel gekauft ist? p2b_215.005 Freilich jawohl! sie hat vielleicht noch andres zu kaufen, p2b_215.006 Wenigstens alles zu sehn, und selbst sich sehen zu lassen. p2b_215.007 Wo ich dann im Gewühl ihr begegne, möchte mit einem p2b_215.008 Blicke, dafern sie zu Worten nicht Zeit hat, oder mit einem p2b_215.009 Druck im Vorübergleiten der leisen Hand sie mir danken! Litteratur der poetischen Epistel. p2b_215.011 p2b_215.014 § 96. Heroide. p2b_215.021 p2b_215.025 p2b_215.026 p2b_215.027 p2b_215.035 p2b_215.001 p2b_215.020Und er doch nicht verschwindet, besinnt sie sich endlich auf's Wahre. p2b_215.002 p2b_215.010Und dann muß sie vom Bett, und muß neugierig in's Glas schaun. p2b_215.003 Möcht ich selber der Spiegel doch sein, daß in mir sie sich schaute! p2b_215.004 Geht sie nun doch auf den Markt, da bereits der Spiegel gekauft ist? p2b_215.005 Freilich jawohl! sie hat vielleicht noch andres zu kaufen, p2b_215.006 Wenigstens alles zu sehn, und selbst sich sehen zu lassen. p2b_215.007 Wo ich dann im Gewühl ihr begegne, möchte mit einem p2b_215.008 Blicke, dafern sie zu Worten nicht Zeit hat, oder mit einem p2b_215.009 Druck im Vorübergleiten der leisen Hand sie mir danken! Litteratur der poetischen Epistel. p2b_215.011 p2b_215.014 § 96. Heroide. p2b_215.021 p2b_215.025 p2b_215.026 p2b_215.027 p2b_215.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0237" n="215"/> <lb n="p2b_215.001"/> <lg> <l>Und er doch nicht verschwindet, besinnt sie sich endlich auf's Wahre.</l> <lb n="p2b_215.002"/> <l>Und dann muß sie vom Bett, und muß neugierig in's Glas schaun.</l> <lb n="p2b_215.003"/> <l>Möcht ich selber der Spiegel doch sein, daß in mir sie sich schaute!</l> <lb n="p2b_215.004"/> <l>Geht sie nun doch auf den Markt, da bereits der Spiegel gekauft ist?</l> <lb n="p2b_215.005"/> <l>Freilich jawohl! sie hat vielleicht noch andres zu kaufen,</l> <lb n="p2b_215.006"/> <l>Wenigstens alles zu sehn, und selbst sich sehen zu lassen.</l> <lb n="p2b_215.007"/> <l>Wo ich dann im Gewühl ihr begegne, möchte mit einem</l> <lb n="p2b_215.008"/> <l>Blicke, dafern sie zu Worten nicht Zeit hat, oder mit einem</l> <lb n="p2b_215.009"/> <l>Druck im Vorübergleiten der leisen Hand sie mir danken!</l> </lg> <lb n="p2b_215.010"/> <p> <hi rendition="#c">Litteratur der poetischen Epistel.</hi> </p> <p><lb n="p2b_215.011"/> Von den Jtalienern schrieb poetische Episteln: <hi rendition="#g">Francesco Algarotti;</hi> <lb n="p2b_215.012"/> von den Engländern: <hi rendition="#g">Pope;</hi> von den Franzosen: <hi rendition="#g">Racine, Rousseau, <lb n="p2b_215.013"/> Voltaire</hi> u. a.</p> <p><lb n="p2b_215.014"/> Von den Deutschen haben <hi rendition="#g">zuerst Günther</hi> und <hi rendition="#g">Uz</hi> Episteln gedichtet. <lb n="p2b_215.015"/> Dann <hi rendition="#g">Gleim</hi> (An Jakobi); <hi rendition="#g">Jakobi</hi> (Antwort); <hi rendition="#g">Göckingk</hi> (An meinen Bedienten, <lb n="p2b_215.016"/> An meinen kleinen Fritz, Einladung an einen Freund); <hi rendition="#g">Wieland, <lb n="p2b_215.017"/> Manso, Ernst Schulze</hi> (An Cäcilie, als sie einen Johannes gemalt hatte); <lb n="p2b_215.018"/> <hi rendition="#g">Pfeffel</hi> (An Zoe &c.); <hi rendition="#g">Gotter</hi> (Der Trost); <hi rendition="#g">Tiedge</hi> (An Schmidt); <hi rendition="#g">Thümmel, <lb n="p2b_215.019"/> Goethe, Platen, Rückert</hi> u. a.</p> </div> <lb n="p2b_215.020"/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 96. 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Chr.] <hi rendition="#aq">V</hi>. 3, welche <lb n="p2b_215.030"/> eine Gattin an ihren im fernen Osten im Feld stehenden Gatten schreibt; wahrscheinlich <lb n="p2b_215.031"/> lediglich Erfindung). Der Jnhalt der römischen Heroide gipfelt in Entfaltung <lb n="p2b_215.032"/> innerer Zustände, wobei die epische Grundlage zum Teil vorausgesetzt <lb n="p2b_215.033"/> wird, zum Teil aus inneren Zuständen zu erraten ist. Sie bilden also in Hinsicht <lb n="p2b_215.034"/> auf die ihr zu Grund liegenden gemischten Empfindungen <hi rendition="#g">eine Art Elegie.</hi></p> <p><lb n="p2b_215.035"/> 2. Seit Chr. <hi rendition="#g">Hoffmann</hi> v. Hoffmannswaldau (Bd. <hi rendition="#aq">I</hi> 51) hat man <lb n="p2b_215.036"/> die Ovidschen Heroiden auch in Deutschland nachgeahmt; man faßte jedoch den <lb n="p2b_215.037"/> Namen falsch auf, indem man unter <hi rendition="#g">Heroides</hi> nicht Heldinnen, Heroinen, d. h. <lb n="p2b_215.038"/> episch berühmte Weiber verstand, sondern annahm, <hi rendition="#aq">Herois</hi> verhalte sich zu <hi rendition="#aq">Heros</hi> <lb n="p2b_215.039"/> wie <hi rendition="#aq">Aeneis</hi> zu <hi rendition="#aq">Aeneas</hi> und sei also ein Gedicht, das von Helden handle. <lb n="p2b_215.040"/> Jn der Regel legte daher der Dichter in der Heroide einer mythischen oder <lb n="p2b_215.041"/> schon verstorbenen, mehr oder weniger geschichtlich merkwürdigen Person seine </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [215/0237]
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Und er doch nicht verschwindet, besinnt sie sich endlich auf's Wahre. p2b_215.002
Und dann muß sie vom Bett, und muß neugierig in's Glas schaun. p2b_215.003
Möcht ich selber der Spiegel doch sein, daß in mir sie sich schaute! p2b_215.004
Geht sie nun doch auf den Markt, da bereits der Spiegel gekauft ist? p2b_215.005
Freilich jawohl! sie hat vielleicht noch andres zu kaufen, p2b_215.006
Wenigstens alles zu sehn, und selbst sich sehen zu lassen. p2b_215.007
Wo ich dann im Gewühl ihr begegne, möchte mit einem p2b_215.008
Blicke, dafern sie zu Worten nicht Zeit hat, oder mit einem p2b_215.009
Druck im Vorübergleiten der leisen Hand sie mir danken!
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Litteratur der poetischen Epistel.
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Von den Jtalienern schrieb poetische Episteln: Francesco Algarotti; p2b_215.012
von den Engländern: Pope; von den Franzosen: Racine, Rousseau, p2b_215.013
Voltaire u. a.
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Von den Deutschen haben zuerst Günther und Uz Episteln gedichtet. p2b_215.015
Dann Gleim (An Jakobi); Jakobi (Antwort); Göckingk (An meinen Bedienten, p2b_215.016
An meinen kleinen Fritz, Einladung an einen Freund); Wieland, p2b_215.017
Manso, Ernst Schulze (An Cäcilie, als sie einen Johannes gemalt hatte); p2b_215.018
Pfeffel (An Zoe &c.); Gotter (Der Trost); Tiedge (An Schmidt); Thümmel, p2b_215.019
Goethe, Platen, Rückert u. a.
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§ 96. Heroide. p2b_215.021
1. Heroiden (lat. heroides von ἡρωίς == Heldin) sind lyrischdidaktische, p2b_215.022
in erhabenem oder elegischem Ton gehaltene Episteln, in p2b_215.023
welchen der Dichter nicht in seinem Namen spricht, vielmehr eine p2b_215.024
historische, mythische oder fingierte Person reden läßt.
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Ovid dichtete die ersten Heroiden und ist somit ihr Begründer.
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2. Die deutschen Heroiden weichen von den Ovidschen ab.
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1. Ovids Heroiden sind Briefe, welche von berühmten Liebhaberinnen an p2b_215.028
ihre entfernteren Geliebten gerichtet wurden (z. B. Deïanira an Herkules. Vgl. p2b_215.029
auch die vorbildliche Heroide bei Properz [49─15 v. Chr.] V. 3, welche p2b_215.030
eine Gattin an ihren im fernen Osten im Feld stehenden Gatten schreibt; wahrscheinlich p2b_215.031
lediglich Erfindung). Der Jnhalt der römischen Heroide gipfelt in Entfaltung p2b_215.032
innerer Zustände, wobei die epische Grundlage zum Teil vorausgesetzt p2b_215.033
wird, zum Teil aus inneren Zuständen zu erraten ist. Sie bilden also in Hinsicht p2b_215.034
auf die ihr zu Grund liegenden gemischten Empfindungen eine Art Elegie.
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2. Seit Chr. Hoffmann v. Hoffmannswaldau (Bd. I 51) hat man p2b_215.036
die Ovidschen Heroiden auch in Deutschland nachgeahmt; man faßte jedoch den p2b_215.037
Namen falsch auf, indem man unter Heroides nicht Heldinnen, Heroinen, d. h. p2b_215.038
episch berühmte Weiber verstand, sondern annahm, Herois verhalte sich zu Heros p2b_215.039
wie Aeneis zu Aeneas und sei also ein Gedicht, das von Helden handle. p2b_215.040
Jn der Regel legte daher der Dichter in der Heroide einer mythischen oder p2b_215.041
schon verstorbenen, mehr oder weniger geschichtlich merkwürdigen Person seine
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