p2b_021.001 Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes p2b_021.002 in "Gott und Welt" und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf p2b_021.003 das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies p2b_021.004 muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über p2b_021.005 jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden, p2b_021.006 fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über p2b_021.007 das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in "Unsterblichkeit" finden; p2b_021.008 das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen, p2b_021.009 verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern, p2b_021.010 wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen p2b_021.011 zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden p2b_021.012 und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es p2b_021.013 versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen), p2b_021.014 v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, - Youngs p2b_021.015 Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen), p2b_021.016 Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedgep2b_021.017 (Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und p2b_021.018 vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa p2b_021.019 zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des p2b_021.020 Reims unter der hochtrabenden Firma: "Didaktisches Gedicht" in das Gebiet p2b_021.021 der Poesie einschmuggeln zu können.
p2b_021.022 Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung p2b_021.023 stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie, p2b_021.024 der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der p2b_021.025 Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher p2b_021.026 Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller p2b_021.027 griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus "Werken und Tagen", entgegentritt. p2b_021.028 (Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt p2b_021.029 von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich p2b_021.030 prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem p2b_021.031 Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann p2b_021.032 wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen, p2b_021.033 sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen p2b_021.034 Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, p2b_021.035 überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder p2b_021.036 ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das p2b_021.037 alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk p2b_021.038 als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte, p2b_021.039 es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie, p2b_021.040 welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging, p2b_021.041 zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne p2b_021.042 Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer p2b_021.043 die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am p2b_021.044 Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die
p2b_021.001 Die didaktischen Gedichte Rückerts und Schillers (zum Teil auch Goethes p2b_021.002 in „Gott und Welt“ und des mittelalterlichen Freidank) vermögen ebenso auf p2b_021.003 das Gemüt, als auf den Verstand und die Phantasie zu wirken, und dies p2b_021.004 muß das Ziel der Didaktik sein. Das echte didaktische Gedicht erhebt sich über p2b_021.005 jene prosaischen, trockenen, kalt moralisierenden oder nüchtern auseinandersetzenden, p2b_021.006 fälschlich als didaktische Gedichte bezeichneten Reimereien, oder über p2b_021.007 das unklare Ringen, wie wir es z. B. bei Sallet in „Unsterblichkeit“ finden; p2b_021.008 das echte didaktische Gedicht, wie wir ihm bei Schiller und Rückert begegnen, p2b_021.009 verdrängt daher die Vorgänger und Zeitgenossen aus der Reihe von Didaktikern, p2b_021.010 wie z. B. Haller (Die Alpen, in dessen Reimen der Dichter die Blumen p2b_021.011 zerzupft, um uns Wurzel, Stengel, Blumenkrone und Kelch mit Staubfäden p2b_021.012 und Griffel zu zeigen, der aber weder den Duft analysieren kann, noch es p2b_021.013 versteht, sein breites, im Versbau übrigens gutes Gedicht mit Duft zu übergießen), p2b_021.014 v. Kreuz (Die Gräber, ein Lehrgedicht in 6 Gesängen, ─ Youngs p2b_021.015 Nachtgedanken nachgebildet, ohne dichterische Lebendigkeit), Neubeck (Gesundbrunnen), p2b_021.016 Dusch (Die Wissenschaften, Lehrgedicht in 8 Gesängen), Tiedgep2b_021.017 (Frauenspiegel, beschreibt die Schwächen und Tugenden der Frauen), und p2b_021.018 vollends viele neuere Talmidichter, die unfähig sind in goldener Prosa p2b_021.019 zu schreiben und nun glauben, ihre jämmerlich gereimte Prosa in Folge des p2b_021.020 Reims unter der hochtrabenden Firma: „Didaktisches Gedicht“ in das Gebiet p2b_021.021 der Poesie einschmuggeln zu können.
p2b_021.022 Diese didaktische Reimerei mit all den zum Gemüt in keiner Beziehung p2b_021.023 stehenden Gedächtnisversen aus allen möglichen Wissensgebieten (wie der Geographie, p2b_021.024 der Arithmetik, der Grammatik, der Jagd, der Gartenkunst und der p2b_021.025 Geschichte; vgl. z. B. Weltgeschichte in Versen von Aßmann) steht auf gleicher p2b_021.026 Stufe mit der früheren antiken, wie sie uns in dem ältesten Denkmal aller p2b_021.027 griechischen Lehrdichtung, in des Hesiodus „Werken und Tagen“, entgegentritt. p2b_021.028 (Wir finden da noch alle Arten nicht bloß von didaktischer Epik, sondern überhaupt p2b_021.029 von didaktischer Poesie, erlaubte und unerlaubte, poetische und eigentlich p2b_021.030 prosaische, ungesondert beisammen, Vorschriften, wie sie nur der Verstand dem p2b_021.031 Verstande erteilen konnte, über Ackerbau und über Handel zur See; dann p2b_021.032 wieder, indem die Lehre, jedoch ohne eine epische Anschauung zu gebrauchen, p2b_021.033 sich an das sittliche Gefühl wendet, Ermahnungen zu einem gerechten, unbescholtenen p2b_021.034 Wandel; dann als Grundlage und Mittel der Lehre epische Anschauungen, p2b_021.035 überlieferte Sagen und erfundene Parabeln; dann endlich wieder p2b_021.036 ein Stück bloß beschreibender Poesie, eine Schilderung des Winters. Und das p2b_021.037 alles bunt verwirrt durcheinander in einer Planlosigkeit, die recht dieses Werk p2b_021.038 als den ersten Versuch und Anlauf bezeichnet und die neuere Kritik veranlaßte, p2b_021.039 es als Sammelwerk zu betrachten.) Die deutsche didaktische Poesie, p2b_021.040 welche ursprünglich als Satire und Spruchgedicht zur Lehrreimerei überging, p2b_021.041 zog sich durch die Priamel des 14. Jahrhunderts (§ 93 d. Bds.) über eine nüchterne p2b_021.042 Moralitätspoesie und didaktische Sentimentalität hinweg, hatte aber immer p2b_021.043 die Belehrung als Zweck und Absicht. Erst durch Schiller und (nachdem sie am p2b_021.044 Gesundbrunnen des heiligen Ganges getrunken) durch Rückert hat sich die
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/43>, abgerufen am 21.11.2024.
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