Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.

Bild:
<< vorherige Seite
p3b_112.001
Er schloß den Sarg von schwarzer Marmorglätte, p3b_112.002
Ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein p3b_112.003
Zum stillen Haus, umweht von Moderfeuchte, p3b_112.004
Und bei ihm saß der Mönch und hielt die Leuchte.
p3b_112.005
Als Morgens früh des Klosters kleine Glocke p3b_112.006
Zum Beten rief, trat aus dem Kirchengang p3b_112.007
Theodorich, und auf dem Marmorblocke p3b_112.008
Der letzten Stufe horcht er nach dem Klang, p3b_112.009
Er strich von seiner heißen Stirn die Locke, p3b_112.010
Sein jugendliches Antlitz überdrang p3b_112.011
Ein tiefer Ernst und in der Morgenwolke p3b_112.012
Flog über ihm ein Adler vor dem Volke.
p3b_112.013
§ 42. Bildung von Sicilianen.

p3b_112.014
1. Alle bei der Oktave gegebenen Vorschriften &c. haben mehr p3b_112.015
oder weniger auf die Siciliane Anwendung, welche ja die Vorläuferin p3b_112.016
der Oktave ist und aus 8 jambischen Verszeilen besteht, wie jene.

p3b_112.017
2. Sie schließt ihre Glieder durch den Reim zusammen (ab ab ab ab).

p3b_112.018
3. Ein strophisches Charakteristikum ist bei der Siciliane nicht p3b_112.019
nötig, da sie in der Regel ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes p3b_112.020
Ganzes, also ein fertiges Gedicht bildet.

p3b_112.021
4. Demnach schließt sie - wie das Schema zeigt - auch nicht p3b_112.022
mit einem Reimpaare ab, sondern mit einer vierten aus Vorder= und p3b_112.023
Nachsatz bestehenden Periode.

p3b_112.024
5. Je nach dem Jnhalt hat die Siciliane männlichen oder weiblichen p3b_112.025
Reim, oder auch abwechselnden männlichen und weiblichen Reim.

p3b_112.026
Aufgabe.   Das Menschenherz.

p3b_112.027
Stoff. Ein dem Wassertod entflogenes Bienchen wird das trügerische p3b_112.028
Gleißen des Wassers meiden; | ein durch die Angel belogenes Fischlein wird p3b_112.029
nicht mehr an den Köder gehen; | ein Lamm, das man dem Wolf entrissen, p3b_112.030
wird gern im schützenden Stalle bleiben; | nur das so oft betrogene Menschenherz p3b_112.031
läßt sich immer von neuem ins Unglück ziehen. |

p3b_112.032

Lösung.

p3b_112.033
Das Bienlein, das dem Wassertod entflogen, p3b_112.034
Wird es nicht fliehn des Wassers trügend Gleißen? p3b_112.035
Das Fischlein, von der Angel schwer betrogen, p3b_112.036
Wird es wohl wieder an den Köder beißen? p3b_112.037
Das Lamm, das du dem Wolfe hast entzogen, p3b_112.038
Wird's nicht die Sicherheit des Stalles preisen? p3b_112.039
Dein Herz nur, Mensch, das öfter schon belogen, p3b_112.040
Läßt stets aufs neue sich ins Unglück reißen.
p3b_112.001
Er schloß den Sarg von schwarzer Marmorglätte, p3b_112.002
Ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein p3b_112.003
Zum stillen Haus, umweht von Moderfeuchte, p3b_112.004
Und bei ihm saß der Mönch und hielt die Leuchte.
p3b_112.005
Als Morgens früh des Klosters kleine Glocke p3b_112.006
Zum Beten rief, trat aus dem Kirchengang p3b_112.007
Theodorich, und auf dem Marmorblocke p3b_112.008
Der letzten Stufe horcht er nach dem Klang, p3b_112.009
Er strich von seiner heißen Stirn die Locke, p3b_112.010
Sein jugendliches Antlitz überdrang p3b_112.011
Ein tiefer Ernst und in der Morgenwolke p3b_112.012
Flog über ihm ein Adler vor dem Volke.
p3b_112.013
§ 42. Bildung von Sicilianen.

p3b_112.014
1. Alle bei der Oktave gegebenen Vorschriften &c. haben mehr p3b_112.015
oder weniger auf die Siciliane Anwendung, welche ja die Vorläuferin p3b_112.016
der Oktave ist und aus 8 jambischen Verszeilen besteht, wie jene.

p3b_112.017
2. Sie schließt ihre Glieder durch den Reim zusammen (ab ab ab ab).

p3b_112.018
3. Ein strophisches Charakteristikum ist bei der Siciliane nicht p3b_112.019
nötig, da sie in der Regel ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes p3b_112.020
Ganzes, also ein fertiges Gedicht bildet.

p3b_112.021
4. Demnach schließt sie ─ wie das Schema zeigt ─ auch nicht p3b_112.022
mit einem Reimpaare ab, sondern mit einer vierten aus Vorder= und p3b_112.023
Nachsatz bestehenden Periode.

p3b_112.024
5. Je nach dem Jnhalt hat die Siciliane männlichen oder weiblichen p3b_112.025
Reim, oder auch abwechselnden männlichen und weiblichen Reim.

p3b_112.026
Aufgabe.   Das Menschenherz.

p3b_112.027
Stoff. Ein dem Wassertod entflogenes Bienchen wird das trügerische p3b_112.028
Gleißen des Wassers meiden; │ ein durch die Angel belogenes Fischlein wird p3b_112.029
nicht mehr an den Köder gehen; │ ein Lamm, das man dem Wolf entrissen, p3b_112.030
wird gern im schützenden Stalle bleiben; │ nur das so oft betrogene Menschenherz p3b_112.031
läßt sich immer von neuem ins Unglück ziehen. │

p3b_112.032

Lösung.

p3b_112.033
Das Bienlein, das dem Wassertod entflogen, p3b_112.034
Wird es nicht fliehn des Wassers trügend Gleißen? p3b_112.035
Das Fischlein, von der Angel schwer betrogen, p3b_112.036
Wird es wohl wieder an den Köder beißen? p3b_112.037
Das Lamm, das du dem Wolfe hast entzogen, p3b_112.038
Wird's nicht die Sicherheit des Stalles preisen? p3b_112.039
Dein Herz nur, Mensch, das öfter schon belogen, p3b_112.040
Läßt stets aufs neue sich ins Unglück reißen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0138" n="112"/>
          <lb n="p3b_112.001"/>
          <lg>
            <l>Er schloß den Sarg von schwarzer Marmorglätte,</l>
            <lb n="p3b_112.002"/>
            <l>Ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein</l>
            <lb n="p3b_112.003"/>
            <l>Zum stillen Haus, umweht von Moderfeuchte,</l>
            <lb n="p3b_112.004"/>
            <l>Und bei ihm saß der Mönch und hielt die Leuchte. </l>
          </lg>
          <lb n="p3b_112.005"/>
          <lg>
            <l>Als Morgens früh des Klosters kleine Glocke</l>
            <lb n="p3b_112.006"/>
            <l>Zum Beten rief, trat aus dem Kirchengang</l>
            <lb n="p3b_112.007"/>
            <l>Theodorich, und auf dem Marmorblocke</l>
            <lb n="p3b_112.008"/>
            <l>Der letzten Stufe horcht er nach dem Klang,</l>
            <lb n="p3b_112.009"/>
            <l>Er strich von seiner heißen Stirn die Locke,</l>
            <lb n="p3b_112.010"/>
            <l>Sein jugendliches Antlitz überdrang</l>
            <lb n="p3b_112.011"/>
            <l>Ein tiefer Ernst und in der Morgenwolke</l>
            <lb n="p3b_112.012"/>
            <l>Flog über ihm ein Adler vor dem Volke.</l>
          </lg>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="p3b_112.013"/>
          <head> <hi rendition="#c">§ 42. Bildung von Sicilianen.</hi> </head>
          <p><lb n="p3b_112.014"/>
1. Alle bei der Oktave gegebenen Vorschriften &amp;c. haben mehr <lb n="p3b_112.015"/>
oder weniger auf die Siciliane Anwendung, welche ja die Vorläuferin <lb n="p3b_112.016"/>
der Oktave ist und aus 8 jambischen Verszeilen besteht, wie jene.</p>
          <p><lb n="p3b_112.017"/>
2. Sie schließt ihre Glieder durch den Reim zusammen (<hi rendition="#aq">ab ab ab ab</hi>).</p>
          <p><lb n="p3b_112.018"/>
3. Ein strophisches Charakteristikum ist bei der Siciliane nicht <lb n="p3b_112.019"/>
nötig, da sie in der Regel ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes <lb n="p3b_112.020"/>
Ganzes, also ein fertiges Gedicht bildet.</p>
          <p><lb n="p3b_112.021"/>
4. Demnach schließt sie &#x2500; wie das Schema zeigt &#x2500; auch nicht <lb n="p3b_112.022"/>
mit einem Reimpaare ab, sondern mit einer vierten aus Vorder= und <lb n="p3b_112.023"/>
Nachsatz bestehenden Periode.</p>
          <p><lb n="p3b_112.024"/>
5. Je nach dem Jnhalt hat die Siciliane männlichen oder weiblichen <lb n="p3b_112.025"/>
Reim, oder auch abwechselnden männlichen und weiblichen Reim.</p>
          <p>
            <lb n="p3b_112.026"/> <hi rendition="#g">Aufgabe.<space dim="horizontal"/>Das Menschenherz.</hi> </p>
          <p><lb n="p3b_112.027"/><hi rendition="#g">Stoff.</hi> Ein dem Wassertod entflogenes Bienchen wird das trügerische <lb n="p3b_112.028"/>
Gleißen des Wassers meiden; &#x2502; ein durch die Angel belogenes Fischlein wird <lb n="p3b_112.029"/>
nicht mehr an den Köder gehen; &#x2502; ein Lamm, das man dem Wolf entrissen, <lb n="p3b_112.030"/>
wird gern im schützenden Stalle bleiben; &#x2502; nur das so oft betrogene Menschenherz <lb n="p3b_112.031"/>
läßt sich immer von neuem ins Unglück ziehen. &#x2502;</p>
          <lb n="p3b_112.032"/>
          <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Lösung.</hi> </hi> </p>
          <lb n="p3b_112.033"/>
          <lg>
            <l>Das Bienlein, das dem Wassertod entflogen,</l>
            <lb n="p3b_112.034"/>
            <l>Wird es nicht fliehn des Wassers trügend Gleißen?</l>
            <lb n="p3b_112.035"/>
            <l>Das Fischlein, von der Angel schwer betrogen,</l>
            <lb n="p3b_112.036"/>
            <l>Wird es wohl wieder an den Köder beißen?</l>
            <lb n="p3b_112.037"/>
            <l>Das Lamm, das du dem Wolfe hast entzogen,</l>
            <lb n="p3b_112.038"/>
            <l>Wird's nicht die Sicherheit des Stalles preisen?</l>
            <lb n="p3b_112.039"/>
            <l>Dein Herz nur, Mensch, das öfter schon belogen,</l>
            <lb n="p3b_112.040"/>
            <l>Läßt stets aufs neue sich ins Unglück reißen.</l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0138] p3b_112.001 Er schloß den Sarg von schwarzer Marmorglätte, p3b_112.002 Ergriff die Kelle, fügte Stein an Stein p3b_112.003 Zum stillen Haus, umweht von Moderfeuchte, p3b_112.004 Und bei ihm saß der Mönch und hielt die Leuchte. p3b_112.005 Als Morgens früh des Klosters kleine Glocke p3b_112.006 Zum Beten rief, trat aus dem Kirchengang p3b_112.007 Theodorich, und auf dem Marmorblocke p3b_112.008 Der letzten Stufe horcht er nach dem Klang, p3b_112.009 Er strich von seiner heißen Stirn die Locke, p3b_112.010 Sein jugendliches Antlitz überdrang p3b_112.011 Ein tiefer Ernst und in der Morgenwolke p3b_112.012 Flog über ihm ein Adler vor dem Volke. p3b_112.013 § 42. Bildung von Sicilianen. p3b_112.014 1. Alle bei der Oktave gegebenen Vorschriften &c. haben mehr p3b_112.015 oder weniger auf die Siciliane Anwendung, welche ja die Vorläuferin p3b_112.016 der Oktave ist und aus 8 jambischen Verszeilen besteht, wie jene. p3b_112.017 2. Sie schließt ihre Glieder durch den Reim zusammen (ab ab ab ab). p3b_112.018 3. Ein strophisches Charakteristikum ist bei der Siciliane nicht p3b_112.019 nötig, da sie in der Regel ein für sich bestehendes, in sich abgeschlossenes p3b_112.020 Ganzes, also ein fertiges Gedicht bildet. p3b_112.021 4. Demnach schließt sie ─ wie das Schema zeigt ─ auch nicht p3b_112.022 mit einem Reimpaare ab, sondern mit einer vierten aus Vorder= und p3b_112.023 Nachsatz bestehenden Periode. p3b_112.024 5. Je nach dem Jnhalt hat die Siciliane männlichen oder weiblichen p3b_112.025 Reim, oder auch abwechselnden männlichen und weiblichen Reim. p3b_112.026 Aufgabe. Das Menschenherz. p3b_112.027 Stoff. Ein dem Wassertod entflogenes Bienchen wird das trügerische p3b_112.028 Gleißen des Wassers meiden; │ ein durch die Angel belogenes Fischlein wird p3b_112.029 nicht mehr an den Köder gehen; │ ein Lamm, das man dem Wolf entrissen, p3b_112.030 wird gern im schützenden Stalle bleiben; │ nur das so oft betrogene Menschenherz p3b_112.031 läßt sich immer von neuem ins Unglück ziehen. │ p3b_112.032 Lösung. p3b_112.033 Das Bienlein, das dem Wassertod entflogen, p3b_112.034 Wird es nicht fliehn des Wassers trügend Gleißen? p3b_112.035 Das Fischlein, von der Angel schwer betrogen, p3b_112.036 Wird es wohl wieder an den Köder beißen? p3b_112.037 Das Lamm, das du dem Wolfe hast entzogen, p3b_112.038 Wird's nicht die Sicherheit des Stalles preisen? p3b_112.039 Dein Herz nur, Mensch, das öfter schon belogen, p3b_112.040 Läßt stets aufs neue sich ins Unglück reißen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/138
Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/138>, abgerufen am 21.11.2024.