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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Welfentreue. Inwieweit sind dynastische Interessen berechtigt?
werden. Das deutsche Volk und sein nationales Leben können
nicht unter fürstlichen Privatbesitz vertheilt werden. Ich bin mir
jeder Zeit klar darüber gewesen, daß diese Erwägung auf die
kurbrandenburgische Dynastie dieselbe Anwendung findet, wie auf
die bairische, die welfische und andre; ich würde gegen das
brandenburgische Fürstenhaus keine Waffen gehabt haben, wenn ich
ihm gegenüber mein deutsches Nationalgefühl durch Bruch und
Auflehnung hätte bethätigen müssen; die geschichtliche Prädestination
lag aber so, daß meine höfischen Talente hinreichten, um den König
und damit schließlich sein Heer der deutschen Sache zu gewinnen.
Ich habe gegen den preußischen Particularismus vielleicht noch
schwierigere Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen
deutschen Staaten und Dynastien, und mein angebornes Ver¬
hältniß zu dem Kaiser Wilhelm I. hat mir diese Kämpfe er¬
schwert. Doch ist es mir schließlich stets gelungen, trotz der starken
dynastischen, aber Dank der dynastisch berechtigten und in entschei¬
denden Momenten immer stärker werdenden nationalen Strebungen
des Kaisers seine Zustimmung für die deutsche Seite unsrer Ent¬
wicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynastische und par¬
ticularistische von allen andern Seiten geltend gemacht wurde. In
der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur mit dem Beistande
des damaligen Kronprinzen möglich. Die territoriale Souveränetät
der einzelnen Fürsten hatte sich im Laufe der deutschen Geschichte
zu einer unnatürlichen Höhe entwickelt; die einzelnen Dynastien,
Preußen nicht ausgenommen, hatten an sich dem deutschen Volke
gegenüber auf Zerstückelung des letztern für ihren Privatbesitz, auf
den souveränen Antheil am Leibe des Volkes niemals ein höheres
historisches Recht, als unter den Hohenstaufen und unter Karl V.
in ihrem Besitz war. Die unbeschränkte Staatssouveränetät der
Dynastien, der Reichsritter, der Reichsstädte und Reichsdörfer war
eine revolutionäre Errungenschaft auf Kosten der Nation und ihrer
Einheit. Ich habe stets den Eindruck des Unnatürlichen von der
Thatsache gehabt, daß die Grenze, welche den niedersächsischen Alt¬

Welfentreue. Inwieweit ſind dynaſtiſche Intereſſen berechtigt?
werden. Das deutſche Volk und ſein nationales Leben können
nicht unter fürſtlichen Privatbeſitz vertheilt werden. Ich bin mir
jeder Zeit klar darüber geweſen, daß dieſe Erwägung auf die
kurbrandenburgiſche Dynaſtie dieſelbe Anwendung findet, wie auf
die bairiſche, die welfiſche und andre; ich würde gegen das
brandenburgiſche Fürſtenhaus keine Waffen gehabt haben, wenn ich
ihm gegenüber mein deutſches Nationalgefühl durch Bruch und
Auflehnung hätte bethätigen müſſen; die geſchichtliche Prädeſtination
lag aber ſo, daß meine höfiſchen Talente hinreichten, um den König
und damit ſchließlich ſein Heer der deutſchen Sache zu gewinnen.
Ich habe gegen den preußiſchen Particularismus vielleicht noch
ſchwierigere Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen
deutſchen Staaten und Dynaſtien, und mein angebornes Ver¬
hältniß zu dem Kaiſer Wilhelm I. hat mir dieſe Kämpfe er¬
ſchwert. Doch iſt es mir ſchließlich ſtets gelungen, trotz der ſtarken
dynaſtiſchen, aber Dank der dynaſtiſch berechtigten und in entſchei¬
denden Momenten immer ſtärker werdenden nationalen Strebungen
des Kaiſers ſeine Zuſtimmung für die deutſche Seite unſrer Ent¬
wicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynaſtiſche und par¬
ticulariſtiſche von allen andern Seiten geltend gemacht wurde. In
der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur mit dem Beiſtande
des damaligen Kronprinzen möglich. Die territoriale Souveränetät
der einzelnen Fürſten hatte ſich im Laufe der deutſchen Geſchichte
zu einer unnatürlichen Höhe entwickelt; die einzelnen Dynaſtien,
Preußen nicht ausgenommen, hatten an ſich dem deutſchen Volke
gegenüber auf Zerſtückelung des letztern für ihren Privatbeſitz, auf
den ſouveränen Antheil am Leibe des Volkes niemals ein höheres
hiſtoriſches Recht, als unter den Hohenſtaufen und unter Karl V.
in ihrem Beſitz war. Die unbeſchränkte Staatsſouveränetät der
Dynaſtien, der Reichsritter, der Reichsſtädte und Reichsdörfer war
eine revolutionäre Errungenſchaft auf Koſten der Nation und ihrer
Einheit. Ich habe ſtets den Eindruck des Unnatürlichen von der
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[295/0322] Welfentreue. Inwieweit ſind dynaſtiſche Intereſſen berechtigt? werden. Das deutſche Volk und ſein nationales Leben können nicht unter fürſtlichen Privatbeſitz vertheilt werden. Ich bin mir jeder Zeit klar darüber geweſen, daß dieſe Erwägung auf die kurbrandenburgiſche Dynaſtie dieſelbe Anwendung findet, wie auf die bairiſche, die welfiſche und andre; ich würde gegen das brandenburgiſche Fürſtenhaus keine Waffen gehabt haben, wenn ich ihm gegenüber mein deutſches Nationalgefühl durch Bruch und Auflehnung hätte bethätigen müſſen; die geſchichtliche Prädeſtination lag aber ſo, daß meine höfiſchen Talente hinreichten, um den König und damit ſchließlich ſein Heer der deutſchen Sache zu gewinnen. Ich habe gegen den preußiſchen Particularismus vielleicht noch ſchwierigere Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen deutſchen Staaten und Dynaſtien, und mein angebornes Ver¬ hältniß zu dem Kaiſer Wilhelm I. hat mir dieſe Kämpfe er¬ ſchwert. Doch iſt es mir ſchließlich ſtets gelungen, trotz der ſtarken dynaſtiſchen, aber Dank der dynaſtiſch berechtigten und in entſchei¬ denden Momenten immer ſtärker werdenden nationalen Strebungen des Kaiſers ſeine Zuſtimmung für die deutſche Seite unſrer Ent¬ wicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynaſtiſche und par¬ ticulariſtiſche von allen andern Seiten geltend gemacht wurde. In der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur mit dem Beiſtande des damaligen Kronprinzen möglich. Die territoriale Souveränetät der einzelnen Fürſten hatte ſich im Laufe der deutſchen Geſchichte zu einer unnatürlichen Höhe entwickelt; die einzelnen Dynaſtien, Preußen nicht ausgenommen, hatten an ſich dem deutſchen Volke gegenüber auf Zerſtückelung des letztern für ihren Privatbeſitz, auf den ſouveränen Antheil am Leibe des Volkes niemals ein höheres hiſtoriſches Recht, als unter den Hohenſtaufen und unter Karl V. in ihrem Beſitz war. Die unbeſchränkte Staatsſouveränetät der Dynaſtien, der Reichsritter, der Reichsſtädte und Reichsdörfer war eine revolutionäre Errungenſchaft auf Koſten der Nation und ihrer Einheit. Ich habe ſtets den Eindruck des Unnatürlichen von der Thatſache gehabt, daß die Grenze, welche den niederſächſiſchen Alt¬

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/322>, abgerufen am 21.11.2024.