Dies war die auch vom Fürsten Gortschakow vertretene An¬ sicht, dem parlamentarische Einrichtungen ein Feld für europäische Verwerthung seiner Beredsamkeit gewährt haben würden, und den sein Popularitätsbedürfniß widerstandsunfähig gegen liberale Strömungen in der russischen "Gesellschaft" machte. Er war bei der Freisprechung von Wera Sassulitsch (11. April 1878) der Erste, der zum Beifall der Zuhörer das Signal gab.
Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft, als ich im April 1862 von dort abging, und blieb so während des ersten Jahres meines Ministeramts. Ich übernahm die Leitung des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es sich bei dem am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufstande nicht blos um das Interesse unsrer östlichen Provinzen, sondern auch um die weiter¬ greifende Frage handelte, ob im russischen Cabinet eine polenfreund¬ liche oder eine antipolnische Richtung, ein Streben nach panslavisti¬ scher antideutscher Verbrüderung zwischen Russen und Polen oder eine gegenseitige Anlehnung der russischen und der preußischen Politik herrschte. In den Verbrüderungsbestrebungen waren die betheiligten Russen die Ehrlicheren; von dem polnischen Adel und der Geistlichkeit wurde schwerlich an einen Erfolg dieser Be¬ strebungen geglaubt oder ein solcher als das definitive Ziel in's Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüde¬ rungspolitik mehr als eine tactische Evolution vorgestellt hätte, zu dem Zwecke, gläubige Russen zu täuschen, so lange es nothwendig oder nützlich sein würde. Die Verbrüderung wird von dem pol¬ nischen Adel und seiner Geistlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd ebenso unwandelbar perhorrescirt wie die mit den Deutschen, letztre jedenfalls stärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Race, sondern auch in der Meinung, daß die Russen in staatlicher Ge¬ meinschaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutschen aber nicht.
Für Preußens deutsche Zukunft war die Haltung Rußlands eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung
Polonismus und Abſolutismus am Petersburger Hofe.
Dies war die auch vom Fürſten Gortſchakow vertretene An¬ ſicht, dem parlamentariſche Einrichtungen ein Feld für europäiſche Verwerthung ſeiner Beredſamkeit gewährt haben würden, und den ſein Popularitätsbedürfniß widerſtandsunfähig gegen liberale Strömungen in der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ machte. Er war bei der Freiſprechung von Wera Saſſulitſch (11. April 1878) der Erſte, der zum Beifall der Zuhörer das Signal gab.
Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft, als ich im April 1862 von dort abging, und blieb ſo während des erſten Jahres meines Miniſteramts. Ich übernahm die Leitung des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es ſich bei dem am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufſtande nicht blos um das Intereſſe unſrer öſtlichen Provinzen, ſondern auch um die weiter¬ greifende Frage handelte, ob im ruſſiſchen Cabinet eine polenfreund¬ liche oder eine antipolniſche Richtung, ein Streben nach panſlaviſti¬ ſcher antideutſcher Verbrüderung zwiſchen Ruſſen und Polen oder eine gegenſeitige Anlehnung der ruſſiſchen und der preußiſchen Politik herrſchte. In den Verbrüderungsbeſtrebungen waren die betheiligten Ruſſen die Ehrlicheren; von dem polniſchen Adel und der Geiſtlichkeit wurde ſchwerlich an einen Erfolg dieſer Be¬ ſtrebungen geglaubt oder ein ſolcher als das definitive Ziel in's Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüde¬ rungspolitik mehr als eine tactiſche Evolution vorgeſtellt hätte, zu dem Zwecke, gläubige Ruſſen zu täuſchen, ſo lange es nothwendig oder nützlich ſein würde. Die Verbrüderung wird von dem pol¬ niſchen Adel und ſeiner Geiſtlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd ebenſo unwandelbar perhorreſcirt wie die mit den Deutſchen, letztre jedenfalls ſtärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Race, ſondern auch in der Meinung, daß die Ruſſen in ſtaatlicher Ge¬ meinſchaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutſchen aber nicht.
Für Preußens deutſche Zukunft war die Haltung Rußlands eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung
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Polonismus und Abſolutismus am Petersburger Hofe.
Dies war die auch vom Fürſten Gortſchakow vertretene An¬
ſicht, dem parlamentariſche Einrichtungen ein Feld für europäiſche
Verwerthung ſeiner Beredſamkeit gewährt haben würden, und
den ſein Popularitätsbedürfniß widerſtandsunfähig gegen liberale
Strömungen in der ruſſiſchen „Geſellſchaft“ machte. Er war bei
der Freiſprechung von Wera Saſſulitſch (11. April 1878) der Erſte,
der zum Beifall der Zuhörer das Signal gab.
Der Kampf der Meinungen war in Petersburg recht lebhaft,
als ich im April 1862 von dort abging, und blieb ſo während
des erſten Jahres meines Miniſteramts. Ich übernahm die Leitung
des Auswärtigen Amts unter dem Eindruck, daß es ſich bei dem
am 1. Januar 1863 ausgebrochenen Aufſtande nicht blos um das
Intereſſe unſrer öſtlichen Provinzen, ſondern auch um die weiter¬
greifende Frage handelte, ob im ruſſiſchen Cabinet eine polenfreund¬
liche oder eine antipolniſche Richtung, ein Streben nach panſlaviſti¬
ſcher antideutſcher Verbrüderung zwiſchen Ruſſen und Polen oder
eine gegenſeitige Anlehnung der ruſſiſchen und der preußiſchen
Politik herrſchte. In den Verbrüderungsbeſtrebungen waren die
betheiligten Ruſſen die Ehrlicheren; von dem polniſchen Adel und
der Geiſtlichkeit wurde ſchwerlich an einen Erfolg dieſer Be¬
ſtrebungen geglaubt oder ein ſolcher als das definitive Ziel in's
Auge gefaßt. Es gab kaum einen Polen, für den die Verbrüde¬
rungspolitik mehr als eine tactiſche Evolution vorgeſtellt hätte, zu
dem Zwecke, gläubige Ruſſen zu täuſchen, ſo lange es nothwendig
oder nützlich ſein würde. Die Verbrüderung wird von dem pol¬
niſchen Adel und ſeiner Geiſtlichkeit nicht ganz, aber doch annähernd
ebenſo unwandelbar perhorreſcirt wie die mit den Deutſchen,
letztre jedenfalls ſtärker, nicht blos aus Abneigung gegen die Race,
ſondern auch in der Meinung, daß die Ruſſen in ſtaatlicher Ge¬
meinſchaft von den Polen geleitet werden würden, die Deutſchen
aber nicht.
Für Preußens deutſche Zukunft war die Haltung Rußlands
eine Frage von hoher Bedeutung. Eine polenfreundliche Richtung
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/334>, abgerufen am 22.11.2024.
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