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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
Zeit in seiner Wohnung unter den Linden sei, und ermächtigte mich,
dem Obersten von Griesheim zu schreiben, daß er die Wohnung
"seines abwesenden Freundes", des Grafen Kniephausen, für poli¬
zeiliche Zwecke zur Verfügung stelle. Spät zu Bett gegangen,
wurde ich um 7 Uhr Morgens durch einen Boten Platens mit der
Bitte, ihn zu besuchen, geweckt. Ich fand ihn sehr erregt darüber,
daß eine Abtheilung von etwa 100 Mann im Hofe seiner Woh¬
nung, also grade dort, wo er den Sitz der Gesandschaft bezeichnet
hatte, aufmarschirt war. Griesheim hatte wahrscheinlich den durch
meine Mittheilung veranlaßten Befehl irgend einem Beamten er¬
theilt, der das Mißverständniß angerichtet hatte. Ich ging zu ihm
und erwirkte den Befehl an den Führer der Abtheilung, die Kniep¬
hausensche Wohnung zu besetzen, was denn auch geschah, nachdem
es schon Tag geworden, während die Besetzung der übrigen ge¬
wählten Häuser in der Nacht heimlich erfolgt war. Vielleicht be¬
wirkte grade der zufällige Anschein offner Entschlossenheit, daß
der Gensdarmenmarkt, als die Minister sich in das Schauspielhaus
begaben, ganz leer war.

Als Wrangel an der Spitze der Truppen eingezogen war (10. No¬
vember), verhandelte er mit der Bürgerwehr und bewog sie zum
freiwilligen Abzuge. Ich hielt das für einen politischen Fehler; wenn
es zum kleinsten Gefecht gekommen wäre, so wäre Berlin nicht durch
Capitulation, sondern gewaltsam eingenommen, und dann wäre die
politische Stellung der Regirung eine andre gewesen. Daß der
König die Nationalversammlung nicht gleich auflöste, sondern auf
einige Zeit vertagte und nach Brandenburg verlegte und den Ver¬
such machte, ob sich dort eine Majorität finden würde, mit der ein
befriedigender Abschluß zu erreichen war, beweist, daß in der poli¬
tischen Entwicklung, die dem Könige vorschweben mochte, die
Rolle der Versammlung auch damals noch nicht ausgespielt war.
Daß diese Rolle auf dem Gebiete der deutschen Frage gedacht war,
dafür sind mir einige Symptome erinnerlich. In Privatgesprächen
der maßgebenden Politiker während der Vertagung der Versamm¬

Zweites Kapitel: Das Jahr 1848.
Zeit in ſeiner Wohnung unter den Linden ſei, und ermächtigte mich,
dem Oberſten von Griesheim zu ſchreiben, daß er die Wohnung
„ſeines abweſenden Freundes“, des Grafen Kniephauſen, für poli¬
zeiliche Zwecke zur Verfügung ſtelle. Spät zu Bett gegangen,
wurde ich um 7 Uhr Morgens durch einen Boten Platens mit der
Bitte, ihn zu beſuchen, geweckt. Ich fand ihn ſehr erregt darüber,
daß eine Abtheilung von etwa 100 Mann im Hofe ſeiner Woh¬
nung, alſo grade dort, wo er den Sitz der Geſandſchaft bezeichnet
hatte, aufmarſchirt war. Griesheim hatte wahrſcheinlich den durch
meine Mittheilung veranlaßten Befehl irgend einem Beamten er¬
theilt, der das Mißverſtändniß angerichtet hatte. Ich ging zu ihm
und erwirkte den Befehl an den Führer der Abtheilung, die Kniep¬
hauſenſche Wohnung zu beſetzen, was denn auch geſchah, nachdem
es ſchon Tag geworden, während die Beſetzung der übrigen ge¬
wählten Häuſer in der Nacht heimlich erfolgt war. Vielleicht be¬
wirkte grade der zufällige Anſchein offner Entſchloſſenheit, daß
der Gensdarmenmarkt, als die Miniſter ſich in das Schauſpielhaus
begaben, ganz leer war.

Als Wrangel an der Spitze der Truppen eingezogen war (10. No¬
vember), verhandelte er mit der Bürgerwehr und bewog ſie zum
freiwilligen Abzuge. Ich hielt das für einen politiſchen Fehler; wenn
es zum kleinſten Gefecht gekommen wäre, ſo wäre Berlin nicht durch
Capitulation, ſondern gewaltſam eingenommen, und dann wäre die
politiſche Stellung der Regirung eine andre geweſen. Daß der
König die Nationalverſammlung nicht gleich auflöſte, ſondern auf
einige Zeit vertagte und nach Brandenburg verlegte und den Ver¬
ſuch machte, ob ſich dort eine Majorität finden würde, mit der ein
befriedigender Abſchluß zu erreichen war, beweiſt, daß in der poli¬
tiſchen Entwicklung, die dem Könige vorſchweben mochte, die
Rolle der Verſammlung auch damals noch nicht ausgeſpielt war.
Daß dieſe Rolle auf dem Gebiete der deutſchen Frage gedacht war,
dafür ſind mir einige Symptome erinnerlich. In Privatgeſprächen
der maßgebenden Politiker während der Vertagung der Verſamm¬

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[52/0079] Zweites Kapitel: Das Jahr 1848. Zeit in ſeiner Wohnung unter den Linden ſei, und ermächtigte mich, dem Oberſten von Griesheim zu ſchreiben, daß er die Wohnung „ſeines abweſenden Freundes“, des Grafen Kniephauſen, für poli¬ zeiliche Zwecke zur Verfügung ſtelle. Spät zu Bett gegangen, wurde ich um 7 Uhr Morgens durch einen Boten Platens mit der Bitte, ihn zu beſuchen, geweckt. Ich fand ihn ſehr erregt darüber, daß eine Abtheilung von etwa 100 Mann im Hofe ſeiner Woh¬ nung, alſo grade dort, wo er den Sitz der Geſandſchaft bezeichnet hatte, aufmarſchirt war. Griesheim hatte wahrſcheinlich den durch meine Mittheilung veranlaßten Befehl irgend einem Beamten er¬ theilt, der das Mißverſtändniß angerichtet hatte. Ich ging zu ihm und erwirkte den Befehl an den Führer der Abtheilung, die Kniep¬ hauſenſche Wohnung zu beſetzen, was denn auch geſchah, nachdem es ſchon Tag geworden, während die Beſetzung der übrigen ge¬ wählten Häuſer in der Nacht heimlich erfolgt war. Vielleicht be¬ wirkte grade der zufällige Anſchein offner Entſchloſſenheit, daß der Gensdarmenmarkt, als die Miniſter ſich in das Schauſpielhaus begaben, ganz leer war. Als Wrangel an der Spitze der Truppen eingezogen war (10. No¬ vember), verhandelte er mit der Bürgerwehr und bewog ſie zum freiwilligen Abzuge. Ich hielt das für einen politiſchen Fehler; wenn es zum kleinſten Gefecht gekommen wäre, ſo wäre Berlin nicht durch Capitulation, ſondern gewaltſam eingenommen, und dann wäre die politiſche Stellung der Regirung eine andre geweſen. Daß der König die Nationalverſammlung nicht gleich auflöſte, ſondern auf einige Zeit vertagte und nach Brandenburg verlegte und den Ver¬ ſuch machte, ob ſich dort eine Majorität finden würde, mit der ein befriedigender Abſchluß zu erreichen war, beweiſt, daß in der poli¬ tiſchen Entwicklung, die dem Könige vorſchweben mochte, die Rolle der Verſammlung auch damals noch nicht ausgeſpielt war. Daß dieſe Rolle auf dem Gebiete der deutſchen Frage gedacht war, dafür ſind mir einige Symptome erinnerlich. In Privatgeſprächen der maßgebenden Politiker während der Vertagung der Verſamm¬

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/79>, abgerufen am 25.11.2024.