fassung gegebene, wieder im Vordergrunde. Der Gedanke, die Verfassung durch einen "Königlichen Freibrief" zu ersetzen, war in der letzten Krankheit noch lebendig.
Die Frankfurter Versammlung, in demselben doppelten Irr¬ thum befangen, behandelte die dynastischen Fragen als über¬ wundenen Standpunkt, und mit der theoretischen Energie, welche dem Deutschen eigen ist, auch in Betreff Preußens und Oestreichs. Diejenigen Abgeordneten, welche in Frankfurt über die Stimmung der preußischen Provinzen und der deutsch-östreichischen Länder kundige Auskunft geben konnten, waren zum Theil interessirt bei der Verschweigung der Wahrheit; die Versammlung täuschte sich, ehrlich oder unehrlich, über die Thatsache, daß im Falle eines Wider¬ spruchs zwischen einem Frankfurter Reichstagsbeschluß und einem preußischen Königsbefehl der erstere bei sieben Achtel der preußischen Bevölkerung leichter oder garnicht in's Gewicht fiel. Wer damals in unsern Ostprovinzen gelebt hat, wird heut noch die Erinnerung haben, daß die Frankfurter Verhandlungen bei allen den Elementen, in deren Hand die materielle Macht lag, bei allen denen, welche in Conflictsfällen Waffen zu führen oder zu befehlen hatten, nicht so ernsthaft aufgefaßt wurden, wie es nach der Würde der wissen¬ schaftlichen und parlamentarischen Größen, die dort versammelt waren, hätte erwartet werden können. Und nicht nur in Preußen, sondern auch in den großen Mittelstaaten hätte damals ein mon¬ archischer Befehl, der die Masse der Fäuste dem Fürsten zu Hülfe aufrief, falls er erfolgte, eine ausreichende Wirkung gehabt; nicht überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller Polizei¬ gewalt genügt haben würde, wenn die Fürsten den Muth gehabt hätten, Minister anzustellen, die ihre Sache fest und offen ver¬ traten. Es war dies im Sommer 1848 in Preußen nicht der Fall gewesen; sobald aber im November der König sich entschloß, Mi¬ nister zu ernennen, welche bereit waren, die Kronrechte ohne Rück¬ sicht auf Parlamentsbeschlüsse zu vertreten, war der ganze Spuk
Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
faſſung gegebene, wieder im Vordergrunde. Der Gedanke, die Verfaſſung durch einen „Königlichen Freibrief“ zu erſetzen, war in der letzten Krankheit noch lebendig.
Die Frankfurter Verſammlung, in demſelben doppelten Irr¬ thum befangen, behandelte die dynaſtiſchen Fragen als über¬ wundenen Standpunkt, und mit der theoretiſchen Energie, welche dem Deutſchen eigen iſt, auch in Betreff Preußens und Oeſtreichs. Diejenigen Abgeordneten, welche in Frankfurt über die Stimmung der preußiſchen Provinzen und der deutſch-öſtreichiſchen Länder kundige Auskunft geben konnten, waren zum Theil intereſſirt bei der Verſchweigung der Wahrheit; die Verſammlung täuſchte ſich, ehrlich oder unehrlich, über die Thatſache, daß im Falle eines Wider¬ ſpruchs zwiſchen einem Frankfurter Reichstagsbeſchluß und einem preußiſchen Königsbefehl der erſtere bei ſieben Achtel der preußiſchen Bevölkerung leichter oder garnicht in's Gewicht fiel. Wer damals in unſern Oſtprovinzen gelebt hat, wird heut noch die Erinnerung haben, daß die Frankfurter Verhandlungen bei allen den Elementen, in deren Hand die materielle Macht lag, bei allen denen, welche in Conflictsfällen Waffen zu führen oder zu befehlen hatten, nicht ſo ernſthaft aufgefaßt wurden, wie es nach der Würde der wiſſen¬ ſchaftlichen und parlamentariſchen Größen, die dort verſammelt waren, hätte erwartet werden können. Und nicht nur in Preußen, ſondern auch in den großen Mittelſtaaten hätte damals ein mon¬ archiſcher Befehl, der die Maſſe der Fäuſte dem Fürſten zu Hülfe aufrief, falls er erfolgte, eine ausreichende Wirkung gehabt; nicht überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller Polizei¬ gewalt genügt haben würde, wenn die Fürſten den Muth gehabt hätten, Miniſter anzuſtellen, die ihre Sache feſt und offen ver¬ traten. Es war dies im Sommer 1848 in Preußen nicht der Fall geweſen; ſobald aber im November der König ſich entſchloß, Mi¬ niſter zu ernennen, welche bereit waren, die Kronrechte ohne Rück¬ ſicht auf Parlamentsbeſchlüſſe zu vertreten, war der ganze Spuk
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Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
faſſung gegebene, wieder im Vordergrunde. Der Gedanke, die
Verfaſſung durch einen „Königlichen Freibrief“ zu erſetzen, war in
der letzten Krankheit noch lebendig.
Die Frankfurter Verſammlung, in demſelben doppelten Irr¬
thum befangen, behandelte die dynaſtiſchen Fragen als über¬
wundenen Standpunkt, und mit der theoretiſchen Energie, welche
dem Deutſchen eigen iſt, auch in Betreff Preußens und Oeſtreichs.
Diejenigen Abgeordneten, welche in Frankfurt über die Stimmung
der preußiſchen Provinzen und der deutſch-öſtreichiſchen Länder
kundige Auskunft geben konnten, waren zum Theil intereſſirt bei
der Verſchweigung der Wahrheit; die Verſammlung täuſchte ſich,
ehrlich oder unehrlich, über die Thatſache, daß im Falle eines Wider¬
ſpruchs zwiſchen einem Frankfurter Reichstagsbeſchluß und einem
preußiſchen Königsbefehl der erſtere bei ſieben Achtel der preußiſchen
Bevölkerung leichter oder garnicht in's Gewicht fiel. Wer damals
in unſern Oſtprovinzen gelebt hat, wird heut noch die Erinnerung
haben, daß die Frankfurter Verhandlungen bei allen den Elementen,
in deren Hand die materielle Macht lag, bei allen denen, welche
in Conflictsfällen Waffen zu führen oder zu befehlen hatten, nicht
ſo ernſthaft aufgefaßt wurden, wie es nach der Würde der wiſſen¬
ſchaftlichen und parlamentariſchen Größen, die dort verſammelt
waren, hätte erwartet werden können. Und nicht nur in Preußen,
ſondern auch in den großen Mittelſtaaten hätte damals ein mon¬
archiſcher Befehl, der die Maſſe der Fäuſte dem Fürſten zu Hülfe
aufrief, falls er erfolgte, eine ausreichende Wirkung gehabt; nicht
überall in dem Maße, wie es in Preußen der Fall war, aber doch
in einem Maße, welches überall dem Bedürfniß materieller Polizei¬
gewalt genügt haben würde, wenn die Fürſten den Muth gehabt
hätten, Miniſter anzuſtellen, die ihre Sache feſt und offen ver¬
traten. Es war dies im Sommer 1848 in Preußen nicht der Fall
geweſen; ſobald aber im November der König ſich entſchloß, Mi¬
niſter zu ernennen, welche bereit waren, die Kronrechte ohne Rück¬
ſicht auf Parlamentsbeſchlüſſe zu vertreten, war der ganze Spuk
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/83>, abgerufen am 25.11.2024.
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