Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden. stehenden Beurtheilung seiner Person, eher in einer stärkernEmpfänglichkeit für das Prestige der Preußischen Krone und ihres Trägers, noch mehr aber in dem instinctiven Mißtrauen gegen die Entwicklung seit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamen¬ tarischen Consequenzen. Den letztern gegenüber war ich mit meinen politischen Freunden unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer in Parlament und Presse das Programm "es muß alles ruinirt werden" zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt för¬ derten und ausführten, und daß die vorhandenen Minister nicht die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen konnten. Mein Standpunkt dazu unterschied sich damals nicht wesentlich von dem noch heut in Kraft stehenden eines parlamen¬ tarischen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit an Freunde und Mißtrauen oder Feindschaft gegen Gegner. Die Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im besten Falle beschränkt, wahrscheinlich aber böswillig und gewissenlos ist, und die Abneigung, mit den eignen Fractionsgenossen zu dissentiren und zu brechen, beherrscht noch heut das Fractions¬ leben; und damals waren die Ueberzeugungen, auf denen diese dem Staatsleben gefährlichen Erscheinungen beruhn, sehr viel lebhafter und ehrlicher, als sie heut sind. Die Gegner kannten sich damals wenig, sie haben seitdem 40 Jahre lang Gelegenheit gehabt, sich kennen zu lernen, da der Personalbestand der im Vordergrunde stehenden Parteimänner sich nur langsam und wenig zu ändern pflegt. Man hielt sich damals wirklich gegenseitig für entweder dumm oder schlecht, man hatte wirklich die Gefühle und Ueber¬ zeugungen, die man heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler und auf den Monarchen zu haben vorgiebt, weil sie zu dem Pro¬ gramm gehören, auf welches hin man in einer bestimmten Fraction Dienst genommen hat, "eingesprungen" ist, indem man an deren Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat. Das politische Streberthum hat heut mehr Antheil an dem Bestehn und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren; die Ueberzeu¬ Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden. ſtehenden Beurtheilung ſeiner Perſon, eher in einer ſtärkernEmpfänglichkeit für das Preſtige der Preußiſchen Krone und ihres Trägers, noch mehr aber in dem inſtinctiven Mißtrauen gegen die Entwicklung ſeit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamen¬ tariſchen Conſequenzen. Den letztern gegenüber war ich mit meinen politiſchen Freunden unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer in Parlament und Preſſe das Programm „es muß alles ruinirt werden“ zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt för¬ derten und ausführten, und daß die vorhandenen Miniſter nicht die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen konnten. Mein Standpunkt dazu unterſchied ſich damals nicht weſentlich von dem noch heut in Kraft ſtehenden eines parlamen¬ tariſchen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit an Freunde und Mißtrauen oder Feindſchaft gegen Gegner. Die Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im beſten Falle beſchränkt, wahrſcheinlich aber böswillig und gewiſſenlos iſt, und die Abneigung, mit den eignen Fractionsgenoſſen zu diſſentiren und zu brechen, beherrſcht noch heut das Fractions¬ leben; und damals waren die Ueberzeugungen, auf denen dieſe dem Staatsleben gefährlichen Erſcheinungen beruhn, ſehr viel lebhafter und ehrlicher, als ſie heut ſind. Die Gegner kannten ſich damals wenig, ſie haben ſeitdem 40 Jahre lang Gelegenheit gehabt, ſich kennen zu lernen, da der Perſonalbeſtand der im Vordergrunde ſtehenden Parteimänner ſich nur langſam und wenig zu ändern pflegt. Man hielt ſich damals wirklich gegenſeitig für entweder dumm oder ſchlecht, man hatte wirklich die Gefühle und Ueber¬ zeugungen, die man heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler und auf den Monarchen zu haben vorgiebt, weil ſie zu dem Pro¬ gramm gehören, auf welches hin man in einer beſtimmten Fraction Dienſt genommen hat, „eingeſprungen“ iſt, indem man an deren Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat. Das politiſche Streberthum hat heut mehr Antheil an dem Beſtehn und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren; die Ueberzeu¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0085" n="58"/><fw place="top" type="header">Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.<lb/></fw> ſtehenden Beurtheilung ſeiner Perſon, eher in einer ſtärkern<lb/> Empfänglichkeit für das Preſtige der Preußiſchen Krone und ihres<lb/> Trägers, noch mehr aber in dem inſtinctiven Mißtrauen gegen die<lb/> Entwicklung ſeit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamen¬<lb/> tariſchen Conſequenzen. 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Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
ſtehenden Beurtheilung ſeiner Perſon, eher in einer ſtärkern
Empfänglichkeit für das Preſtige der Preußiſchen Krone und ihres
Trägers, noch mehr aber in dem inſtinctiven Mißtrauen gegen die
Entwicklung ſeit den Barrikaden von 1848 und ihren parlamen¬
tariſchen Conſequenzen. Den letztern gegenüber war ich mit meinen
politiſchen Freunden unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer
in Parlament und Preſſe das Programm „es muß alles ruinirt
werden“ zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt för¬
derten und ausführten, und daß die vorhandenen Miniſter nicht
die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen
konnten. Mein Standpunkt dazu unterſchied ſich damals nicht
weſentlich von dem noch heut in Kraft ſtehenden eines parlamen¬
tariſchen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit an
Freunde und Mißtrauen oder Feindſchaft gegen Gegner. Die
Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vornimmt, im
beſten Falle beſchränkt, wahrſcheinlich aber böswillig und gewiſſenlos
iſt, und die Abneigung, mit den eignen Fractionsgenoſſen zu
diſſentiren und zu brechen, beherrſcht noch heut das Fractions¬
leben; und damals waren die Ueberzeugungen, auf denen dieſe dem
Staatsleben gefährlichen Erſcheinungen beruhn, ſehr viel lebhafter
und ehrlicher, als ſie heut ſind. Die Gegner kannten ſich damals
wenig, ſie haben ſeitdem 40 Jahre lang Gelegenheit gehabt, ſich
kennen zu lernen, da der Perſonalbeſtand der im Vordergrunde
ſtehenden Parteimänner ſich nur langſam und wenig zu ändern
pflegt. Man hielt ſich damals wirklich gegenſeitig für entweder
dumm oder ſchlecht, man hatte wirklich die Gefühle und Ueber¬
zeugungen, die man heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler
und auf den Monarchen zu haben vorgiebt, weil ſie zu dem Pro¬
gramm gehören, auf welches hin man in einer beſtimmten Fraction
Dienſt genommen hat, „eingeſprungen“ iſt, indem man an deren
Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat. Das
politiſche Streberthum hat heut mehr Antheil an dem Beſtehn
und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren; die Ueberzeu¬
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