Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Der Dreikaiserbund. Die Gortschakowsche Intrige. auch für Rußland, um aus der Politik der persönlichen Freund¬schaft der beiden Kaiser einen Uebergang zu der des kühlen russi¬ schen Staatsinteresses zu finden, das 1814 und 1815 bei Ab¬ steckung des französischen Gebiets maßgebend gewesen war. Daß es für die russische Politik eine Grenze giebt, über die hinaus das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf, ist erklärlich. Dieselbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter Frieden erreicht, und diese Thatsache war vielleicht 1870 und 1871 in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtsein gekommen, wie fünf Jahre später. Ich glaube kaum, daß das russische Cabinet während unsres Krieges deutlich vorausgesehn hat, daß es nach demselben ein so starkes und consolidirtes Deutschland zum Nachbar haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa schon einige Zweifel darüber herrschten, ob es richtig gewesen sei, die Dinge so weit kommen zu lassen, ohne in die Entwicklung einzu¬ greifen. Die aufrichtige Freundschaft und Verehrung Alexanders II. für seinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreise bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern wollen, nur um das kranke Frankreich nicht genesen zu lassen, so würde unzweifelhaft nach einigen mißlungenen Conferenzen zur Verhütung des Krieges unsre Kriegführung sich in Frankreich in der Lage befunden haben, die ich in Versailles bei der Ver¬ schleppung der Belagerung befürchtet hatte. Die Beendigung des Krieges würde nicht durch einen Friedensschluß unter vier Augen, sondern in einem Congresse zu Stande gekommen sein, wie 1814 unter Zuziehung des besiegten Frankreich und vielleicht bei der Mißgunst, der wir ausgesetzt waren, ebenso wie damals unter Leitung eines neuen Talleyrand. Ich hatte schon in Versailles befürchtet, daß die Betheiligung Der Dreikaiſerbund. Die Gortſchakowſche Intrige. auch für Rußland, um aus der Politik der perſönlichen Freund¬ſchaft der beiden Kaiſer einen Uebergang zu der des kühlen ruſſi¬ ſchen Staatsintereſſes zu finden, das 1814 und 1815 bei Ab¬ ſteckung des franzöſiſchen Gebiets maßgebend geweſen war. Daß es für die ruſſiſche Politik eine Grenze giebt, über die hinaus das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf, iſt erklärlich. Dieſelbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter Frieden erreicht, und dieſe Thatſache war vielleicht 1870 und 1871 in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtſein gekommen, wie fünf Jahre ſpäter. Ich glaube kaum, daß das ruſſiſche Cabinet während unſres Krieges deutlich vorausgeſehn hat, daß es nach demſelben ein ſo ſtarkes und conſolidirtes Deutſchland zum Nachbar haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa ſchon einige Zweifel darüber herrſchten, ob es richtig geweſen ſei, die Dinge ſo weit kommen zu laſſen, ohne in die Entwicklung einzu¬ greifen. Die aufrichtige Freundſchaft und Verehrung Alexanders II. für ſeinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreiſe bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern wollen, nur um das kranke Frankreich nicht geneſen zu laſſen, ſo würde unzweifelhaft nach einigen mißlungenen Conferenzen zur Verhütung des Krieges unſre Kriegführung ſich in Frankreich in der Lage befunden haben, die ich in Verſailles bei der Ver¬ ſchleppung der Belagerung befürchtet hatte. Die Beendigung des Krieges würde nicht durch einen Friedensſchluß unter vier Augen, ſondern in einem Congreſſe zu Stande gekommen ſein, wie 1814 unter Zuziehung des beſiegten Frankreich und vielleicht bei der Mißgunſt, der wir ausgeſetzt waren, ebenſo wie damals unter Leitung eines neuen Talleyrand. 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Der Dreikaiſerbund. Die Gortſchakowſche Intrige.
auch für Rußland, um aus der Politik der perſönlichen Freund¬
ſchaft der beiden Kaiſer einen Uebergang zu der des kühlen ruſſi¬
ſchen Staatsintereſſes zu finden, das 1814 und 1815 bei Ab¬
ſteckung des franzöſiſchen Gebiets maßgebend geweſen war. Daß
es für die ruſſiſche Politik eine Grenze giebt, über die hinaus
das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf,
iſt erklärlich. Dieſelbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter
Frieden erreicht, und dieſe Thatſache war vielleicht 1870 und 1871
in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtſein gekommen,
wie fünf Jahre ſpäter. Ich glaube kaum, daß das ruſſiſche Cabinet
während unſres Krieges deutlich vorausgeſehn hat, daß es nach
demſelben ein ſo ſtarkes und conſolidirtes Deutſchland zum Nachbar
haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa
ſchon einige Zweifel darüber herrſchten, ob es richtig geweſen ſei,
die Dinge ſo weit kommen zu laſſen, ohne in die Entwicklung einzu¬
greifen. Die aufrichtige Freundſchaft und Verehrung Alexanders II.
für ſeinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreiſe
bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern
wollen, nur um das kranke Frankreich nicht geneſen zu laſſen, ſo
würde unzweifelhaft nach einigen mißlungenen Conferenzen zur
Verhütung des Krieges unſre Kriegführung ſich in Frankreich in
der Lage befunden haben, die ich in Verſailles bei der Ver¬
ſchleppung der Belagerung befürchtet hatte. Die Beendigung des
Krieges würde nicht durch einen Friedensſchluß unter vier Augen,
ſondern in einem Congreſſe zu Stande gekommen ſein, wie 1814
unter Zuziehung des beſiegten Frankreich und vielleicht bei der
Mißgunſt, der wir ausgeſetzt waren, ebenſo wie damals unter
Leitung eines neuen Talleyrand.
Ich hatte ſchon in Verſailles befürchtet, daß die Betheiligung
Frankreichs an den Londoner Conferenzen über die das Schwarze
Meer betreffenden Clauſeln des Pariſer Friedens dazu benutzt werden
könnte, um mit der Dreiſtigkeit, die Talleyrand in Wien bewieſen
hatte, die deutſch-franzöſiſche Frage als Pfropfreis auf die pro¬
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