Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfassung. lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, sich die Ent¬schließung vorbehaltend. Es entstand also die Frage, wie das Staatsministerium, das die Königliche Zustimmung beantragt hatte, sich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einst¬ weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Gesetzentwurf vor dem Thronwechsel eingebracht war, und endlich, weil wir ver¬ meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin schwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver¬ schärfen. Die Sache erledigte sich dadurch, daß Se. Majestät mir am 27. Mai auch das preußische Gesetz vollzogen aus eignem An¬ triebe zugehn ließ. Man hat sich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung. lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, ſich die Ent¬ſchließung vorbehaltend. Es entſtand alſo die Frage, wie das Staatsminiſterium, das die Königliche Zuſtimmung beantragt hatte, ſich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einſt¬ weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Geſetzentwurf vor dem Thronwechſel eingebracht war, und endlich, weil wir ver¬ meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin ſchwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver¬ ſchärfen. Die Sache erledigte ſich dadurch, daß Se. Majeſtät mir am 27. Mai auch das preußiſche Geſetz vollzogen aus eignem An¬ triebe zugehn ließ. Man hat ſich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0331" n="307"/><fw place="top" type="header">Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.<lb/></fw> lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, ſich die Ent¬<lb/> ſchließung vorbehaltend. Es entſtand alſo die Frage, wie das<lb/> Staatsminiſterium, das die Königliche Zuſtimmung beantragt hatte,<lb/> ſich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einſt¬<lb/> weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil<lb/> er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Geſetzentwurf<lb/> vor dem Thronwechſel eingebracht war, und endlich, weil wir ver¬<lb/> meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin<lb/> ſchwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver¬<lb/> ſchärfen. Die Sache erledigte ſich dadurch, daß Se. Majeſtät mir<lb/> am 27. Mai auch das preußiſche Geſetz vollzogen aus eignem An¬<lb/> triebe zugehn ließ.</p><lb/> <p>Man hat ſich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als<lb/> verantwortlich für das geſammte Verhalten der Reichsregirung an¬<lb/> zuſehn. Dieſe Verantwortlichkeit läßt ſich nur dann behaupten,<lb/> wenn man ſeine Berechtigung zugiebt, das kaiſerliche Ueberſendungs¬<lb/> ſchreiben, vermittelſt deſſen Vorlagen der verbündeten Regirungen<lb/> (Art. 16) an den Reichstag gelangen, durch Verweigerung der<lb/> Gegenzeichnung zu inhibiren. Der Kanzler an ſich hätte, wenn er<lb/> nicht zugleich preußiſcher Bevollmächtigter zum Bundesrathe iſt,<lb/> nach dem Wortlaute der Verfaſſung nicht einmal die Berechtigung,<lb/> an den Debatten des Reichstags perſönlich theilzunehmen. Wenn<lb/> er, wie bisher, zugleich Träger eines preußiſchen Mandates zum<lb/> Bundesrathe iſt, ſo hat er nach Art. 9 das Recht, im Reichstage<lb/> zu erſcheinen und jederzeit gehört zu werden; dem Reichskanzler als<lb/> ſolchem iſt dieſe Berechtigung durch keine Beſtimmung der Ver¬<lb/> faſſung beigelegt. Wenn alſo weder der König von Preußen, noch<lb/> ein andres Mitglied des Bundes den Kanzler mit einer Vollmacht<lb/> für den Bundesrath verſieht, ſo fehlt demſelben die verfaſſungs¬<lb/> mäßige Legitimation zum Erſcheinen im Reichstage; er führt zwar<lb/> nach Art. 15 im Bundesrathe den Vorſitz, aber ohne Votum, und<lb/> es würden ihm die preußiſchen Bevollmächtigten in derſelben Un¬<lb/> abhängigkeit gegenüberſtehn wie die der übrigen Bundesſtaaten.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [307/0331]
Eine Legende. Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.
lehnte dann vor der Hand die Unterzeichnung ab, ſich die Ent¬
ſchließung vorbehaltend. Es entſtand alſo die Frage, wie das
Staatsminiſterium, das die Königliche Zuſtimmung beantragt hatte,
ſich zu verhalten habe. Ich befürwortete und erreichte, daß einſt¬
weilen auf eine Erörterung mit dem Könige verzichtet wurde, weil
er ein unzweifelhaftes Recht ausübe, weil überdies der Geſetzentwurf
vor dem Thronwechſel eingebracht war, und endlich, weil wir ver¬
meiden müßten, die wegen der Krankheit des Monarchen ohnehin
ſchwierige Situation durch Anregung von Cabinetsfragen zu ver¬
ſchärfen. Die Sache erledigte ſich dadurch, daß Se. Majeſtät mir
am 27. Mai auch das preußiſche Geſetz vollzogen aus eignem An¬
triebe zugehn ließ.
Man hat ſich in der Praxis daran gewöhnt, den Kanzler als
verantwortlich für das geſammte Verhalten der Reichsregirung an¬
zuſehn. Dieſe Verantwortlichkeit läßt ſich nur dann behaupten,
wenn man ſeine Berechtigung zugiebt, das kaiſerliche Ueberſendungs¬
ſchreiben, vermittelſt deſſen Vorlagen der verbündeten Regirungen
(Art. 16) an den Reichstag gelangen, durch Verweigerung der
Gegenzeichnung zu inhibiren. Der Kanzler an ſich hätte, wenn er
nicht zugleich preußiſcher Bevollmächtigter zum Bundesrathe iſt,
nach dem Wortlaute der Verfaſſung nicht einmal die Berechtigung,
an den Debatten des Reichstags perſönlich theilzunehmen. Wenn
er, wie bisher, zugleich Träger eines preußiſchen Mandates zum
Bundesrathe iſt, ſo hat er nach Art. 9 das Recht, im Reichstage
zu erſcheinen und jederzeit gehört zu werden; dem Reichskanzler als
ſolchem iſt dieſe Berechtigung durch keine Beſtimmung der Ver¬
faſſung beigelegt. Wenn alſo weder der König von Preußen, noch
ein andres Mitglied des Bundes den Kanzler mit einer Vollmacht
für den Bundesrath verſieht, ſo fehlt demſelben die verfaſſungs¬
mäßige Legitimation zum Erſcheinen im Reichstage; er führt zwar
nach Art. 15 im Bundesrathe den Vorſitz, aber ohne Votum, und
es würden ihm die preußiſchen Bevollmächtigten in derſelben Un¬
abhängigkeit gegenüberſtehn wie die der übrigen Bundesſtaaten.
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