Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Eine Betrachtung über die Reichsverfassung. Herstellung der Reichsverfassung befürchtet, daß die Gefährdungunsrer nationalen Einheit in erster Linie von dynastischen Sonder¬ bestrebungen zu befürchten sei, und hatte mir daher zur Aufgabe gestellt, das Vertrauen der Dynastien durch ehrliche und wohl¬ wollende Wahrung ihrer verfassungsmäßigen Rechte im Reiche zu gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbesondre die hervorragenden Fürstenhäuser eine gleichzeitige Befriedigung ihres nationalen Sinnes und ihrer particulären Ansprüche fanden. In dem Ehrgefühle, das den Kaiser Wilhelm I. seinen Bundesgenossen gegenüber beseelte, habe ich stets ein Verständniß für die politische Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen stark dynastischen Gefühle schließlich doch überlegen war. Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬ Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung. Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdungunſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬ beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬ wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm I. ſeinen Bundesgenoſſen gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle ſchließlich doch überlegen war. Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0333" n="309"/><fw place="top" type="header">Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.<lb/></fw> Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdung<lb/> unſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬<lb/> beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe<lb/> geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬<lb/> wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu<lb/> gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die<lb/> hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres<lb/> nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In<lb/> dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm <hi rendition="#aq">I</hi>. ſeinen Bundesgenoſſen<lb/> gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche<lb/> Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle<lb/> ſchließlich doch überlegen war.</p><lb/> <p>Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬<lb/> meinſamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬<lb/> tage, in Finanzen, baſirt auf indirecten Steuern und in Mono¬<lb/> polen, deren Erträge nur bei dauernd geſichertem Zuſammenhange<lb/> flüſſig bleiben, Bindemittel herzuſtellen, die haltbar genug wären,<lb/> um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬<lb/> ſtand zu leiſten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieſer Rech¬<lb/> nung geirrt, daß ich die nationale Geſinnung der Dynaſtien unter¬<lb/> ſchätzt, die der deutſchen Wähler oder doch des Reichstags über¬<lb/> ſchätzt hatte, war Ende der ſiebziger Jahre in mir noch nicht zum<lb/> Durchbruch gekommen, mit ſo viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,<lb/> am Hofe, in der conſervativen Partei und deren „Declaranten“ zu<lb/> kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynaſtien Abbitte zu leiſten;<lb/> ob die Fractionsführer mir ein <hi rendition="#aq">pater peccavi</hi> ſchuldig ſind, darüber<lb/> wird die Geſchichte einmal entſcheiden. Ich kann nur das Zeugniß<lb/> ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsſcheuen Mitgliedern ſo¬<lb/> wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das<lb/> Votum ihrer Gefolgſchaften lag, eine ſchwerere Schuld an der<lb/> Schädigung unſrer Zukunft beimeſſe, als ſie ſelbſt fühlen. „<hi rendition="#aq">Get<lb/> you home, you fragments</hi>,“ ſagt Coriolan. Nur die Führung<lb/> des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber ſie<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [309/0333]
Eine Betrachtung über die Reichsverfaſſung.
Herſtellung der Reichsverfaſſung befürchtet, daß die Gefährdung
unſrer nationalen Einheit in erſter Linie von dynaſtiſchen Sonder¬
beſtrebungen zu befürchten ſei, und hatte mir daher zur Aufgabe
geſtellt, das Vertrauen der Dynaſtien durch ehrliche und wohl¬
wollende Wahrung ihrer verfaſſungsmäßigen Rechte im Reiche zu
gewinnen, habe auch die Genugthuung gehabt, daß insbeſondre die
hervorragenden Fürſtenhäuſer eine gleichzeitige Befriedigung ihres
nationalen Sinnes und ihrer particulären Anſprüche fanden. In
dem Ehrgefühle, das den Kaiſer Wilhelm I. ſeinen Bundesgenoſſen
gegenüber beſeelte, habe ich ſtets ein Verſtändniß für die politiſche
Nothwendigkeit gefunden, das dem eignen ſtark dynaſtiſchen Gefühle
ſchließlich doch überlegen war.
Auf der andern Seite hatte ich darauf gerechnet, in den ge¬
meinſamen öffentlichen Einrichtungen, namentlich in dem Reichs¬
tage, in Finanzen, baſirt auf indirecten Steuern und in Mono¬
polen, deren Erträge nur bei dauernd geſichertem Zuſammenhange
flüſſig bleiben, Bindemittel herzuſtellen, die haltbar genug wären,
um centrifugaler Anwandlung einzelner Bundesregirungen Wider¬
ſtand zu leiſten. Die Ueberzeugung, daß ich mich in dieſer Rech¬
nung geirrt, daß ich die nationale Geſinnung der Dynaſtien unter¬
ſchätzt, die der deutſchen Wähler oder doch des Reichstags über¬
ſchätzt hatte, war Ende der ſiebziger Jahre in mir noch nicht zum
Durchbruch gekommen, mit ſo viel Uebelwollen ich auch im Reichstage,
am Hofe, in der conſervativen Partei und deren „Declaranten“ zu
kämpfen gehabt hatte. Jetzt habe ich den Dynaſtien Abbitte zu leiſten;
ob die Fractionsführer mir ein pater peccavi ſchuldig ſind, darüber
wird die Geſchichte einmal entſcheiden. Ich kann nur das Zeugniß
ablegen, daß ich den Fractionen, den arbeitsſcheuen Mitgliedern ſo¬
wohl wie den Strebern, in deren Hand die Führung und das
Votum ihrer Gefolgſchaften lag, eine ſchwerere Schuld an der
Schädigung unſrer Zukunft beimeſſe, als ſie ſelbſt fühlen. „Get
you home, you fragments,“ ſagt Coriolan. Nur die Führung
des Centrums kann ich nicht eine unfähige nennen, aber ſie
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Zitationshilfe: | Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/333>, abgerufen am 16.07.2024. |