Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Blum, Joachim Christian: Spatziergänge. Bd. 1. Berlin, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

auch einem Manne von Genie ein uner-
träglicher Zwang seyn, sein ganzes Leben
hindurch in einem immer wiederkommen-
den Kreise herumzugehen. Nicht minder
ist es ein sehr nachtheiliger Umstand, dass
man bey den vorgeschriebenen Texten bey
weiten nicht alles sagen kann, was dem Zu-
hörer zu wissen unumgänglich nöthig wä-
re. Freylich hab' ich Postillen gesehen in
denen unter den gewöhnlichen Evangelien
und Episteln die ganze Dogmatik und Mo-
ral abgehandelt war. Aber wehe dem der
sie zu lesen verdammt ist! Die Sache ist zu
ernsthaft, als dass man sie belachen sollte:
sie verdient den frommen Wunsch, dass
sich das Licht der gesunden Vernunft und
des geläuterten Geschmacks auch an sol-
chen Orten verbreiten möge, wo man noch
ohne alle weitere Prüfung, mit einer Art
von Aberglauben, den Gebräuchen seiner

auch einem Manne von Genie ein uner-
träglicher Zwang ſeyn, ſein ganzes Leben
hindurch in einem immer wiederkommen-
den Kreiſe herumzugehen. Nicht minder
iſt es ein ſehr nachtheiliger Umſtand, daſs
man bey den vorgeſchriebenen Texten bey
weiten nicht alles ſagen kann, was dem Zu-
hörer zu wiſsen unumgänglich nöthig wä-
re. Freylich hab’ ich Poſtillen geſehen in
denen unter den gewöhnlichen Evangelien
und Epiſteln die ganze Dogmatik und Mo-
ral abgehandelt war. Aber wehe dem der
ſie zu leſen verdammt iſt! Die Sache iſt zu
ernſthaft, als daſs man ſie belachen ſollte:
ſie verdient den frommen Wunſch, daſs
ſich das Licht der geſunden Vernunft und
des geläuterten Geſchmacks auch an ſol-
chen Orten verbreiten möge, wo man noch
ohne alle weitere Prüfung, mit einer Art
von Aberglauben, den Gebräuchen ſeiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0041" n="33"/>
auch einem Manne von Genie ein uner-<lb/>
träglicher Zwang &#x017F;eyn, &#x017F;ein ganzes Leben<lb/>
hindurch in einem immer wiederkommen-<lb/>
den Krei&#x017F;e herumzugehen. Nicht minder<lb/>
i&#x017F;t es ein &#x017F;ehr nachtheiliger Um&#x017F;tand, da&#x017F;s<lb/>
man bey den vorge&#x017F;chriebenen Texten bey<lb/>
weiten nicht alles &#x017F;agen kann, was dem Zu-<lb/>
hörer zu wi&#x017F;sen unumgänglich nöthig wä-<lb/>
re. Freylich hab&#x2019; ich Po&#x017F;tillen ge&#x017F;ehen in<lb/>
denen unter den gewöhnlichen Evangelien<lb/>
und Epi&#x017F;teln die ganze Dogmatik und Mo-<lb/>
ral abgehandelt war. Aber wehe dem der<lb/>
&#x017F;ie zu le&#x017F;en verdammt i&#x017F;t! Die Sache i&#x017F;t zu<lb/>
ern&#x017F;thaft, als da&#x017F;s man &#x017F;ie belachen &#x017F;ollte:<lb/>
&#x017F;ie verdient den frommen Wun&#x017F;ch, da&#x017F;s<lb/>
&#x017F;ich das Licht der ge&#x017F;unden Vernunft und<lb/>
des geläuterten Ge&#x017F;chmacks auch an &#x017F;ol-<lb/>
chen Orten verbreiten möge, wo man noch<lb/>
ohne alle weitere Prüfung, mit einer Art<lb/>
von Aberglauben, den Gebräuchen &#x017F;einer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0041] auch einem Manne von Genie ein uner- träglicher Zwang ſeyn, ſein ganzes Leben hindurch in einem immer wiederkommen- den Kreiſe herumzugehen. Nicht minder iſt es ein ſehr nachtheiliger Umſtand, daſs man bey den vorgeſchriebenen Texten bey weiten nicht alles ſagen kann, was dem Zu- hörer zu wiſsen unumgänglich nöthig wä- re. Freylich hab’ ich Poſtillen geſehen in denen unter den gewöhnlichen Evangelien und Epiſteln die ganze Dogmatik und Mo- ral abgehandelt war. Aber wehe dem der ſie zu leſen verdammt iſt! Die Sache iſt zu ernſthaft, als daſs man ſie belachen ſollte: ſie verdient den frommen Wunſch, daſs ſich das Licht der geſunden Vernunft und des geläuterten Geſchmacks auch an ſol- chen Orten verbreiten möge, wo man noch ohne alle weitere Prüfung, mit einer Art von Aberglauben, den Gebräuchen ſeiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/blum_spatziergaenge01_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/blum_spatziergaenge01_1774/41
Zitationshilfe: Blum, Joachim Christian: Spatziergänge. Bd. 1. Berlin, 1774, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blum_spatziergaenge01_1774/41>, abgerufen am 03.12.2024.