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Blumenbach, Johann Friedrich: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, 1798.

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gewollt, daß er in Ansehung des Aufenthaltes jedem
Boden und Klima angehöre (tantodapon) [...]; und
deshalb hat sie seinen Körper aus dem nachgiebigsten
Schleimnetze bereitet, damit er desto leichter nach
den mannichfaltigen Einwirkungen der verschiedenen
Klimate sich fügen und einrichten könne.

Dieser Gefügigkeit sich zu gewöhnen, kommt
eine andere physiologische Eigenheit des Menschen
ungemein zu statten, nämlich langsames Wachs-
thum, lange Kindheit, schöne Mannbarkeit. Bey
keinem andern Säugthiere wächst die Hirnschale so
spät zusammen, brechen so spät die Zähne hervor,
keins, außer dem Menschen, lernt so spät erst auf
den Füßen stehen, wächst so spät völlig aus, oder
reift so spät zur Ausübung der Geschlechtsverrich-
tungen.

Hingegen giebt es von der andern Seite auch
kein Säugthier, dem in Betracht der mäßigen Kör-
permasse die Natur ein so spätes Lebensende gesetzt
hätte31).

Die Körpergröße, deren ich erwähnte, erinnert
mich an eine sonderbare Eigenheit, welche man, so

31) Das natürliche Ende des menschlichen Lebens (wel-
ches man nämlich für das gewöhnlichere und gleichsam
festbestimmte Ziel des Greifesalters halten könnte)
kann man kaum bestimmen. Doch ist es merkwürdig,
was ich durch genaue Vergleichung mehrerer Morta-
litätslisten gelehrt worden bin, daß, nach Verhältniß,
ziemlich viel europäische Greise das 84 Jahr erreichen,
wenige aber es überleben. Nun erhellt bey einer Be-
rechnung des menschlichen Lebensalters, durch
eine Vergleichung desselben mit dem Lebensende an-
derer Säugthiere, leicht, welch ein großer Vorzug
auch in diesem Betracht, oder wenigstens, welche Ver-
gütung mit Wucher für die lange Kindheit dem Men-
schen ist zugestanden worden.

gewollt, daß er in Ansehung des Aufenthaltes jedem
Boden und Klima angehöre (ταντοδαπον) […]; und
deshalb hat sie seinen Körper aus dem nachgiebigsten
Schleimnetze bereitet, damit er desto leichter nach
den mannichfaltigen Einwirkungen der verschiedenen
Klimate sich fügen und einrichten könne.

Dieser Gefügigkeit sich zu gewöhnen, kommt
eine andere physiologische Eigenheit des Menschen
ungemein zu statten, nämlich langsames Wachs-
thum, lange Kindheit, schöne Mannbarkeit. Bey
keinem andern Säugthiere wächst die Hirnschale so
spät zusammen, brechen so spät die Zähne hervor,
keins, außer dem Menschen, lernt so spät erst auf
den Füßen stehen, wächst so spät völlig aus, oder
reift so spät zur Ausübung der Geschlechtsverrich-
tungen.

Hingegen giebt es von der andern Seite auch
kein Säugthier, dem in Betracht der mäßigen Kör-
permasse die Natur ein so spätes Lebensende gesetzt
hätte31).

Die Körpergröße, deren ich erwähnte, erinnert
mich an eine sonderbare Eigenheit, welche man, so

31) Das natürliche Ende des menschlichen Lebens (wel-
ches man nämlich für das gewöhnlichere und gleichsam
festbestimmte Ziel des Greifesalters halten könnte)
kann man kaum bestimmen. Doch ist es merkwürdig,
was ich durch genaue Vergleichung mehrerer Morta-
litätslisten gelehrt worden bin, daß, nach Verhältniß,
ziemlich viel europäische Greise das 84 Jahr erreichen,
wenige aber es überleben. Nun erhellt bey einer Be-
rechnung des menschlichen Lebensalters, durch
eine Vergleichung desselben mit dem Lebensende an-
derer Säugthiere, leicht, welch ein großer Vorzug
auch in diesem Betracht, oder wenigstens, welche Ver-
gütung mit Wucher für die lange Kindheit dem Men-
schen ist zugestanden worden.
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[47/0081] gewollt, daß er in Ansehung des Aufenthaltes jedem Boden und Klima angehöre (ταντοδαπον) ; und deshalb hat sie seinen Körper aus dem nachgiebigsten Schleimnetze bereitet, damit er desto leichter nach den mannichfaltigen Einwirkungen der verschiedenen Klimate sich fügen und einrichten könne. Dieser Gefügigkeit sich zu gewöhnen, kommt eine andere physiologische Eigenheit des Menschen ungemein zu statten, nämlich langsames Wachs- thum, lange Kindheit, schöne Mannbarkeit. Bey keinem andern Säugthiere wächst die Hirnschale so spät zusammen, brechen so spät die Zähne hervor, keins, außer dem Menschen, lernt so spät erst auf den Füßen stehen, wächst so spät völlig aus, oder reift so spät zur Ausübung der Geschlechtsverrich- tungen. Hingegen giebt es von der andern Seite auch kein Säugthier, dem in Betracht der mäßigen Kör- permasse die Natur ein so spätes Lebensende gesetzt hätte 31). Die Körpergröße, deren ich erwähnte, erinnert mich an eine sonderbare Eigenheit, welche man, so 31) Das natürliche Ende des menschlichen Lebens (wel- ches man nämlich für das gewöhnlichere und gleichsam festbestimmte Ziel des Greifesalters halten könnte) kann man kaum bestimmen. Doch ist es merkwürdig, was ich durch genaue Vergleichung mehrerer Morta- litätslisten gelehrt worden bin, daß, nach Verhältniß, ziemlich viel europäische Greise das 84 Jahr erreichen, wenige aber es überleben. Nun erhellt bey einer Be- rechnung des menschlichen Lebensalters, durch eine Vergleichung desselben mit dem Lebensende an- derer Säugthiere, leicht, welch ein großer Vorzug auch in diesem Betracht, oder wenigstens, welche Ver- gütung mit Wucher für die lange Kindheit dem Men- schen ist zugestanden worden.

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Zitationshilfe: Blumenbach, Johann Friedrich: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, 1798, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_menschengeschlecht2_1798/81>, abgerufen am 29.11.2024.