"und ist bey dem Thiere in zartester Jugend nicht "geringer oder schwächer, als wenn es erwachsen "ist. Die Vernunft hingegen gleicht einem Keime, "der nur in dem Verfolg der Zeit, durch Hinzukunft "des gesellschaftlichen Lebens und anderer äußeren "Umstände, gleichsam entwickelt, ausgebildet, und "zur Vollkommenheit gebracht wird. Der junge "Stier spürt seine Kraft schon so sehr, daß er mit "den noch nicht vorhandenen Waffen auf dich losgeht. Losgeht der junge Stier, wenn du ihn erzürnst oder reizest, Auf dich, ehe noch ihm auf der Stirn die Hörner gekeimt sind "sagt Lukrez. Woher kommt das, wenn er nicht "seinen Führer in sich hat? Bey dem Menschen "zeigt sich so etwas nicht. Nakt und waffenlos "wird er geboren, und mit keinem Instinkte bewaf- "net, hängt er ganz vom gesellschaftlichen Leben, "von der Erziehung, ab. Dieser regt das Flämm- "chen der Vernunft allmählig an, welches am Ende "allein den Maugel alles dessen, wodurch das Thier "besser daran zu seyn schien, als der Mensch, glück- "lich vergütet. Der Mensch unter Thieren erzogen, "des menschlichen Umgangs beraubt, wird wild: "nie aber ereignet sich das Gegentheil bey Thieren, "wenn sie unter Menschen leben. Weder Biber "noch Seehunde, die in Gesellschaft leben, noch "die Hausthiere, welche immer um uns sind, wer- "den je Vernunft erlangen. *)"
"Hier-
*) Vergl. hiermit Handb. d. Naturgesch. Ausg. 5. S. 60.
„und iſt bey dem Thiere in zarteſter Jugend nicht „geringer oder ſchwaͤcher, als wenn es erwachſen „iſt. Die Vernunft hingegen gleicht einem Keime, „der nur in dem Verfolg der Zeit, durch Hinzukunft „des geſellſchaftlichen Lebens und anderer aͤußeren „Umſtaͤnde, gleichſam entwickelt, ausgebildet, und „zur Vollkommenheit gebracht wird. Der junge „Stier ſpuͤrt ſeine Kraft ſchon ſo ſehr, daß er mit „den noch nicht vorhandenen Waffen auf dich losgeht. Losgeht der junge Stier, wenn du ihn erzuͤrnſt oder reizeſt, Auf dich, ehe noch ihm auf der Stirn die Hoͤrner gekeimt ſind „ſagt Lukrez. Woher kommt das, wenn er nicht „ſeinen Fuͤhrer in ſich hat? Bey dem Menſchen „zeigt ſich ſo etwas nicht. Nakt und waffenlos „wird er geboren, und mit keinem Inſtinkte bewaf- „net, haͤngt er ganz vom geſellſchaftlichen Leben, „von der Erziehung, ab. Dieſer regt das Flaͤmm- „chen der Vernunft allmaͤhlig an, welches am Ende „allein den Maugel alles deſſen, wodurch das Thier „beſſer daran zu ſeyn ſchien, als der Menſch, gluͤck- „lich verguͤtet. Der Menſch unter Thieren erzogen, „des menſchlichen Umgangs beraubt, wird wild: „nie aber ereignet ſich das Gegentheil bey Thieren, „wenn ſie unter Menſchen leben. Weder Biber „noch Seehunde, die in Geſellſchaft leben, noch „die Hausthiere, welche immer um uns ſind, wer- „den je Vernunft erlangen. *)“
„Hier-
*) Vergl. hiermit Handb. d. Naturgeſch. Ausg. 5. S. 60.
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„und iſt bey dem Thiere in zarteſter Jugend nicht
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„iſt. Die Vernunft hingegen gleicht einem Keime,
„der nur in dem Verfolg der Zeit, durch Hinzukunft
„des geſellſchaftlichen Lebens und anderer aͤußeren
„Umſtaͤnde, gleichſam entwickelt, ausgebildet, und
„zur Vollkommenheit gebracht wird. Der junge
„Stier ſpuͤrt ſeine Kraft ſchon ſo ſehr, daß er mit
„den noch nicht vorhandenen Waffen auf dich losgeht.
Losgeht der junge Stier, wenn du ihn erzuͤrnſt oder
reizeſt,
Auf dich, ehe noch ihm auf der Stirn die Hoͤrner
gekeimt ſind
„ſagt Lukrez. Woher kommt das, wenn er nicht
„ſeinen Fuͤhrer in ſich hat? Bey dem Menſchen
„zeigt ſich ſo etwas nicht. Nakt und waffenlos
„wird er geboren, und mit keinem Inſtinkte bewaf-
„net, haͤngt er ganz vom geſellſchaftlichen Leben,
„von der Erziehung, ab. Dieſer regt das Flaͤmm-
„chen der Vernunft allmaͤhlig an, welches am Ende
„allein den Maugel alles deſſen, wodurch das Thier
„beſſer daran zu ſeyn ſchien, als der Menſch, gluͤck-
„lich verguͤtet. Der Menſch unter Thieren erzogen,
„des menſchlichen Umgangs beraubt, wird wild:
„nie aber ereignet ſich das Gegentheil bey Thieren,
„wenn ſie unter Menſchen leben. Weder Biber
„noch Seehunde, die in Geſellſchaft leben, noch
„die Hausthiere, welche immer um uns ſind, wer-
„den je Vernunft erlangen. *)“
„Hier-
*) Vergl. hiermit Handb. d. Naturgeſch. Ausg. 5. S. 60.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
"Über die natürlichen Verschiedenheiten im Mensch… [mehr]
"Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte" ist die überarbeitete Fassung von Blumenbachs Dissertationsschrift "De generis humani varietate nativa" (1. Aufl. 1775 bei Friedrich Andreas Rosenbusch in Göttingen). Die Dissertation erschien in lateinischer Sprache; für das DTA wurde Johann Gottfried Grubers Übersetzung der dritten Auflage von Blumenbachs Dissertation (1795 bei Vandenhoek & Ruprecht) digitalisiert, die 1798 in Leipzig bei Breitkopf & Härtel erschien. Erstmals lag hiermit Blumenbachs Werk "De generis humani varietate nativa" in deutscher Sprache vor.
Blumenbach, Johann Friedrich: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, 1798, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_menschengeschlecht_1798/289>, abgerufen am 16.07.2024.
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