vor kurzem hat man sich einiger Mooße, beson- ders der gallertigen Wasserfäden (Conferva ge- latinosa) zu Aufhebung des Unterschieds zwi- schen Thier und Pflanze bedient, indem man an diesen Gewächsen, die ganz augenscheinlich durch Wurzeln ernährt werden, doch eine willkürliche Bewegung wahrzunehmen geglaubt hat. Al- lein wir haben schon mehrere Sommer hindurch an verschiedenen Varietäten dieser Wasserfäden, die sich in der Nachbarschaft von Göttingen fin- den, mit aller uns möglichen Behutsamkeit, und theils unter den Augen sehr vieler Zeugen, Ver- suche angestellt, ohne auch nur die geringste Spur von eigenthümlicher Bewegung an diesem merk- würdigen Mooße zu bemerken. Die mindste Bewegung eines kleinen Würmchens, was etwa zugleich mit diesem Mooße im Wasser ist, oder der mindste Hauch auf die Oberfläche des Was- sers, setzen freylich das ganze gallertige Gewächs in Erschütterung; aber diese consensuelle Bewe- gung ist doch wohl eben so wenig willkürlich zu nennen, als die bekannten Erscheinungen an den sogenannten Fühlpflanzen, der Venus-Fliegen- Falle (Dionaea muscipula) u. s. w. die alle, so- wol als die gedachten Wasserfäden, in unsern Au- gen wahre Pflanzen, so wie die Polypen wahre Thiere, bleiben. Kurz, uns wenigstens ist noch kein Geschöpf bekannt, daß auf beyde organisirte Reiche gleich viel Anspruch machen dürfte; und schon a priori scheint uns die Exsistenz eines sol-
vor kurzem hat man sich einiger Mooße, beson- ders der gallertigen Wasserfäden (Conferva ge- latinosa) zu Aufhebung des Unterschieds zwi- schen Thier und Pflanze bedient, indem man an diesen Gewächsen, die ganz augenscheinlich durch Wurzeln ernährt werden, doch eine willkürliche Bewegung wahrzunehmen geglaubt hat. Al- lein wir haben schon mehrere Sommer hindurch an verschiedenen Varietäten dieser Wasserfäden, die sich in der Nachbarschaft von Göttingen fin- den, mit aller uns möglichen Behutsamkeit, und theils unter den Augen sehr vieler Zeugen, Ver- suche angestellt, ohne auch nur die geringste Spur von eigenthümlicher Bewegung an diesem merk- würdigen Mooße zu bemerken. Die mindste Bewegung eines kleinen Würmchens, was etwa zugleich mit diesem Mooße im Wasser ist, oder der mindste Hauch auf die Oberfläche des Was- sers, setzen freylich das ganze gallertige Gewächs in Erschütterung; aber diese consensuelle Bewe- gung ist doch wohl eben so wenig willkürlich zu nennen, als die bekannten Erscheinungen an den sogenannten Fühlpflanzen, der Venus-Fliegen- Falle (Dionaea muscipula) u. s. w. die alle, so- wol als die gedachten Wasserfäden, in unsern Au- gen wahre Pflanzen, so wie die Polypen wahre Thiere, bleiben. Kurz, uns wenigstens ist noch kein Geschöpf bekannt, daß auf beyde organisirte Reiche gleich viel Anspruch machen dürfte; und schon a priori scheint uns die Exsistenz eines sol-
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vor kurzem hat man sich einiger Mooße, beson-
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latinosa) zu Aufhebung des Unterschieds zwi-
schen Thier und Pflanze bedient, indem man an
diesen Gewächsen, die ganz augenscheinlich durch
Wurzeln ernährt werden, doch eine willkürliche
Bewegung wahrzunehmen geglaubt hat. Al-
lein wir haben schon mehrere Sommer hindurch
an verschiedenen Varietäten dieser Wasserfäden,
die sich in der Nachbarschaft von Göttingen fin-
den, mit aller uns möglichen Behutsamkeit, und
theils unter den Augen sehr vieler Zeugen, Ver-
suche angestellt, ohne auch nur die geringste Spur
von eigenthümlicher Bewegung an diesem merk-
würdigen Mooße zu bemerken. Die mindste
Bewegung eines kleinen Würmchens, was etwa
zugleich mit diesem Mooße im Wasser ist, oder
der mindste Hauch auf die Oberfläche des Was-
sers, setzen freylich das ganze gallertige Gewächs
in Erschütterung; aber diese consensuelle Bewe-
gung ist doch wohl eben so wenig willkürlich zu
nennen, als die bekannten Erscheinungen an den
sogenannten Fühlpflanzen, der Venus-Fliegen-
Falle (Dionaea muscipula) u. s. w. die alle, so-
wol als die gedachten Wasserfäden, in unsern Au-
gen wahre Pflanzen, so wie die Polypen wahre
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Blumenbach, Johann Friedrich: Handbuch der Naturgeschichte. Bd. 1. Göttingen, 1779, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_naturgeschichte_1779/31>, abgerufen am 21.11.2024.
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