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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
Denken gänzlich fremd ist. Man darf ihnen das nicht zur Schuld an-
rechnen, denn Niemand kann über seine Naturanlage hinaus gehen. Aber
sie thun wohl, sich jedes Urtheils zu enthalten über die Dinge, die sie
nicht verstehen; denn sonst offenbaren sie mit dem Mangel ihres Ver-
ständnisses zugleich ihren anmaszlichen Sinn.

Einer der Ersten, welche der organischen Betrachtung Bahn gebrochen
haben, war Fr. Schmitthenner, der den Stat als "ethischen Organis-
mus" erklärte, "bestimmt die öffentlichen Angelegenheiten des äuszern
Lebens, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Bildung zu vertreten."

Einen merkwürdigen Versuch hat Vollgraff gemacht, die Stats-
lehre auf die Psychologie der Völker zu gründen (Erster Versuch einer
wissenschaftlichen Begründung, sowohl der allgemeinen Ethnologie durch
die Anthropologie wie auch der Stats- und Rechtsphilosophie durch die
Ethnologie oder Nationalität der Völker. III Theile. 1851-1853). Das
Werk gibt sich selbst als "ersten Versuch" und ist als solcher ehrenwerth.
Aber dasselbe ist doch nicht geeignet, die psychologische Methode zu
Ehren zu bringen. Weder befriedigt die Darstellung der menschlichen
Seelenkräfte, noch die Schätzung der verschiedenen Temperamente; und
der angesammelte ansehnliche Stoff von historischen Notizen und mannig-
faltigen Beobachtungen und Reisebemerkungen ist zu wenig kritisch
verarbeitet und gar zu sehr mit bloszen Phantasiebildern gemischt, so
dasz auch das Gefühl der realen Sicherheit nicht aufkommt.

Ahrens, dem Philosophen Krause folgend, hat es unternommen,
eine "organische Statslehre" zu schreiben (H. Ahrens, die or-
ganische Statslehre. Bd. I. Wien 1850). Aber er versteht unter dem
Organismus des Stats nicht so wohl ein lebendiges persönliches Gemein-
wesen, als vielmehr eine organische Einrichtung für Rechtsgemeinschaft.

Waitz (Politik. 1862. I. 1.) endlich sagt vom Stat: "Der Stat ist
nichts willkürlich Gemachtes, nicht durch Vertrag der Menschen, nicht
durch Gewalt eines oder einiger Einzelnen entstanden. Der Stat erwächst
organisch als ein Organismus, aber nicht nach den Gesetzen und für die
Zwecke des Naturlebens, sondern er ruht auf den höheren sittlichen
Anlagen der Menschen, in ihren wahren sittlichen Ideen; es ist kein
natürlicher, ein ethischer Organismus. Der Stat ist die Organisation
des Volks." Der Stat ist aber nicht die Verwirklichung des sittlichen
Lebens überhaupt. Die sittlichen Anlagen der Menschen und die sitt-
lichen Ideen bestimmen ebenso das Privat- wie das Statsleben, die Kirche
wie den Stat, die Familie und die Gesellschaft. Nur wenn die mensch-
liche Gesammt-Natur
der Völker und der Menschheit psycho-
logisch verstanden wird, ist eine unterscheidende und erklärende Grund-
lage gewonnen für den Stats-Begriff. In meinen "Psychologischen
Studien
über Stat und Kirche," Zürich 1844, ist der erste Versuch
gemacht, den Stat aus der Psychologie Fr. Rohmers zu erklären. Ich
setzte dabei irriger Weise einiges Verständnisz für diese in der "Lehre

Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
Denken gänzlich fremd ist. Man darf ihnen das nicht zur Schuld an-
rechnen, denn Niemand kann über seine Naturanlage hinaus gehen. Aber
sie thun wohl, sich jedes Urtheils zu enthalten über die Dinge, die sie
nicht verstehen; denn sonst offenbaren sie mit dem Mangel ihres Ver-
ständnisses zugleich ihren anmaszlichen Sinn.

Einer der Ersten, welche der organischen Betrachtung Bahn gebrochen
haben, war Fr. Schmitthenner, der den Stat als „ethischen Organis-
mus“ erklärte, „bestimmt die öffentlichen Angelegenheiten des äuszern
Lebens, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Bildung zu vertreten.“

Einen merkwürdigen Versuch hat Vollgraff gemacht, die Stats-
lehre auf die Psychologie der Völker zu gründen (Erster Versuch einer
wissenschaftlichen Begründung, sowohl der allgemeinen Ethnologie durch
die Anthropologie wie auch der Stats- und Rechtsphilosophie durch die
Ethnologie oder Nationalität der Völker. III Theile. 1851-1853). Das
Werk gibt sich selbst als „ersten Versuch“ und ist als solcher ehrenwerth.
Aber dasselbe ist doch nicht geeignet, die psychologische Methode zu
Ehren zu bringen. Weder befriedigt die Darstellung der menschlichen
Seelenkräfte, noch die Schätzung der verschiedenen Temperamente; und
der angesammelte ansehnliche Stoff von historischen Notizen und mannig-
faltigen Beobachtungen und Reisebemerkungen ist zu wenig kritisch
verarbeitet und gar zu sehr mit bloszen Phantasiebildern gemischt, so
dasz auch das Gefühl der realen Sicherheit nicht aufkommt.

Ahrens, dem Philosophen Krause folgend, hat es unternommen,
eine „organische Statslehre“ zu schreiben (H. Ahrens, die or-
ganische Statslehre. Bd. I. Wien 1850). Aber er versteht unter dem
Organismus des Stats nicht so wohl ein lebendiges persönliches Gemein-
wesen, als vielmehr eine organische Einrichtung für Rechtsgemeinschaft.

Waitz (Politik. 1862. I. 1.) endlich sagt vom Stat: „Der Stat ist
nichts willkürlich Gemachtes, nicht durch Vertrag der Menschen, nicht
durch Gewalt eines oder einiger Einzelnen entstanden. Der Stat erwächst
organisch als ein Organismus, aber nicht nach den Gesetzen und für die
Zwecke des Naturlebens, sondern er ruht auf den höheren sittlichen
Anlagen der Menschen, in ihren wahren sittlichen Ideen; es ist kein
natürlicher, ein ethischer Organismus. Der Stat ist die Organisation
des Volks.“ Der Stat ist aber nicht die Verwirklichung des sittlichen
Lebens überhaupt. Die sittlichen Anlagen der Menschen und die sitt-
lichen Ideen bestimmen ebenso das Privat- wie das Statsleben, die Kirche
wie den Stat, die Familie und die Gesellschaft. Nur wenn die mensch-
liche Gesammt-Natur
der Völker und der Menschheit psycho-
logisch verstanden wird, ist eine unterscheidende und erklärende Grund-
lage gewonnen für den Stats-Begriff. In meinen „Psychologischen
Studien
über Stat und Kirche,“ Zürich 1844, ist der erste Versuch
gemacht, den Stat aus der Psychologie Fr. Rohmers zu erklären. Ich
setzte dabei irriger Weise einiges Verständnisz für diese in der „Lehre

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[83/0101] Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre. Denken gänzlich fremd ist. Man darf ihnen das nicht zur Schuld an- rechnen, denn Niemand kann über seine Naturanlage hinaus gehen. Aber sie thun wohl, sich jedes Urtheils zu enthalten über die Dinge, die sie nicht verstehen; denn sonst offenbaren sie mit dem Mangel ihres Ver- ständnisses zugleich ihren anmaszlichen Sinn. Einer der Ersten, welche der organischen Betrachtung Bahn gebrochen haben, war Fr. Schmitthenner, der den Stat als „ethischen Organis- mus“ erklärte, „bestimmt die öffentlichen Angelegenheiten des äuszern Lebens, des Rechtes, der Wohlfahrt und der Bildung zu vertreten.“ Einen merkwürdigen Versuch hat Vollgraff gemacht, die Stats- lehre auf die Psychologie der Völker zu gründen (Erster Versuch einer wissenschaftlichen Begründung, sowohl der allgemeinen Ethnologie durch die Anthropologie wie auch der Stats- und Rechtsphilosophie durch die Ethnologie oder Nationalität der Völker. III Theile. 1851-1853). Das Werk gibt sich selbst als „ersten Versuch“ und ist als solcher ehrenwerth. Aber dasselbe ist doch nicht geeignet, die psychologische Methode zu Ehren zu bringen. Weder befriedigt die Darstellung der menschlichen Seelenkräfte, noch die Schätzung der verschiedenen Temperamente; und der angesammelte ansehnliche Stoff von historischen Notizen und mannig- faltigen Beobachtungen und Reisebemerkungen ist zu wenig kritisch verarbeitet und gar zu sehr mit bloszen Phantasiebildern gemischt, so dasz auch das Gefühl der realen Sicherheit nicht aufkommt. Ahrens, dem Philosophen Krause folgend, hat es unternommen, eine „organische Statslehre“ zu schreiben (H. Ahrens, die or- ganische Statslehre. Bd. I. Wien 1850). Aber er versteht unter dem Organismus des Stats nicht so wohl ein lebendiges persönliches Gemein- wesen, als vielmehr eine organische Einrichtung für Rechtsgemeinschaft. Waitz (Politik. 1862. I. 1.) endlich sagt vom Stat: „Der Stat ist nichts willkürlich Gemachtes, nicht durch Vertrag der Menschen, nicht durch Gewalt eines oder einiger Einzelnen entstanden. Der Stat erwächst organisch als ein Organismus, aber nicht nach den Gesetzen und für die Zwecke des Naturlebens, sondern er ruht auf den höheren sittlichen Anlagen der Menschen, in ihren wahren sittlichen Ideen; es ist kein natürlicher, ein ethischer Organismus. Der Stat ist die Organisation des Volks.“ Der Stat ist aber nicht die Verwirklichung des sittlichen Lebens überhaupt. Die sittlichen Anlagen der Menschen und die sitt- lichen Ideen bestimmen ebenso das Privat- wie das Statsleben, die Kirche wie den Stat, die Familie und die Gesellschaft. Nur wenn die mensch- liche Gesammt-Natur der Völker und der Menschheit psycho- logisch verstanden wird, ist eine unterscheidende und erklärende Grund- lage gewonnen für den Stats-Begriff. In meinen „Psychologischen Studien über Stat und Kirche,“ Zürich 1844, ist der erste Versuch gemacht, den Stat aus der Psychologie Fr. Rohmers zu erklären. Ich setzte dabei irriger Weise einiges Verständnisz für diese in der „Lehre

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/101>, abgerufen am 27.11.2024.