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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
äuszeren Kundgebungen der Sprache und der Sitte eine sicht-
bare Darstellung erhalten haben. Aber sie ist doch nicht ein
organisches Wesen in dem höheren Sinne, wie das Volk eine
Person ist. Die Gemeinschaft ist in ihr lebendig und die
Anlage zur Einheit. Aber die Einheit des Rechtswillens und
der That, die rechtliche Persönlichkeit hat sie nicht,
wenn sie nicht im Stat zum Volk geworden ist.

Obwohl der menschliche Geist und die menschliche Ar-
beit auch an der Bildung der Nationen einen sehr erheblichen
Antheil haben, so vollzieht sich dieselbe doch zumeist unbe-
wuszt, wie eine Naturnothwendigkeit. Indem sich die
Eine Menschheit in viele Nationen zertheilt, erhält sie die
Möglichkeit, alle die verborgenen Kräfte ihrer Natur, die der
gemeinsamen Entwicklung fähig sind, durch den Wettstreit
und die mannigfaltigen Arbeiten der verschiedenen Nationen
zu offenbaren und ihre Bestimmung reicher zu erfüllen. Das
Wachsthum und die Entfaltung der Nationen bildet daher
einen starken Hebel der Weltgeschichte und gehört sicher zu
den Grundlinien des göttlichen Weltplans.

Der Begriff der Nation läszt sich daher so bestimmen:
Nation ist die erblich gewordene Geistes-, Gemüths-
und Rassegemeinschaft von Menschenmassen der ver-
schiedenen Berufszweige und Gesellschaftsschichten, welche
auch abgesehen von dem Statsverband als culturverwandte
Stammesgenossenschaft
vorzüglich in der Sprache, den
Sitten, der Cultur sich verbunden fühlt und von den übrigen
Massen als Fremden sich unterscheidet.

Die Grenzen einer Nation sind veränderlich und beweg-
lich. Sie kann fortwährend wachsen und sich ausbreiten,
wenn es ihr gelingt, ihre Sprache und ihre Sitte, ihre Cultur
auf fremde Massen auszudehnen und dieselben dadurch zu
assimiliren. Sie kann abnehmen, zusammenschrumpfen und
ganz aussterben, wenn eine fremde Cultur siegreich wider sie
vorgeht und ihre bisherigen Glieder für sich einnimmt und

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
äuszeren Kundgebungen der Sprache und der Sitte eine sicht-
bare Darstellung erhalten haben. Aber sie ist doch nicht ein
organisches Wesen in dem höheren Sinne, wie das Volk eine
Person ist. Die Gemeinschaft ist in ihr lebendig und die
Anlage zur Einheit. Aber die Einheit des Rechtswillens und
der That, die rechtliche Persönlichkeit hat sie nicht,
wenn sie nicht im Stat zum Volk geworden ist.

Obwohl der menschliche Geist und die menschliche Ar-
beit auch an der Bildung der Nationen einen sehr erheblichen
Antheil haben, so vollzieht sich dieselbe doch zumeist unbe-
wuszt, wie eine Naturnothwendigkeit. Indem sich die
Eine Menschheit in viele Nationen zertheilt, erhält sie die
Möglichkeit, alle die verborgenen Kräfte ihrer Natur, die der
gemeinsamen Entwicklung fähig sind, durch den Wettstreit
und die mannigfaltigen Arbeiten der verschiedenen Nationen
zu offenbaren und ihre Bestimmung reicher zu erfüllen. Das
Wachsthum und die Entfaltung der Nationen bildet daher
einen starken Hebel der Weltgeschichte und gehört sicher zu
den Grundlinien des göttlichen Weltplans.

Der Begriff der Nation läszt sich daher so bestimmen:
Nation ist die erblich gewordene Geistes-, Gemüths-
und Rassegemeinschaft von Menschenmassen der ver-
schiedenen Berufszweige und Gesellschaftsschichten, welche
auch abgesehen von dem Statsverband als culturverwandte
Stammesgenossenschaft
vorzüglich in der Sprache, den
Sitten, der Cultur sich verbunden fühlt und von den übrigen
Massen als Fremden sich unterscheidet.

Die Grenzen einer Nation sind veränderlich und beweg-
lich. Sie kann fortwährend wachsen und sich ausbreiten,
wenn es ihr gelingt, ihre Sprache und ihre Sitte, ihre Cultur
auf fremde Massen auszudehnen und dieselben dadurch zu
assimiliren. Sie kann abnehmen, zusammenschrumpfen und
ganz aussterben, wenn eine fremde Cultur siegreich wider sie
vorgeht und ihre bisherigen Glieder für sich einnimmt und

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[96/0114] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur. äuszeren Kundgebungen der Sprache und der Sitte eine sicht- bare Darstellung erhalten haben. Aber sie ist doch nicht ein organisches Wesen in dem höheren Sinne, wie das Volk eine Person ist. Die Gemeinschaft ist in ihr lebendig und die Anlage zur Einheit. Aber die Einheit des Rechtswillens und der That, die rechtliche Persönlichkeit hat sie nicht, wenn sie nicht im Stat zum Volk geworden ist. Obwohl der menschliche Geist und die menschliche Ar- beit auch an der Bildung der Nationen einen sehr erheblichen Antheil haben, so vollzieht sich dieselbe doch zumeist unbe- wuszt, wie eine Naturnothwendigkeit. Indem sich die Eine Menschheit in viele Nationen zertheilt, erhält sie die Möglichkeit, alle die verborgenen Kräfte ihrer Natur, die der gemeinsamen Entwicklung fähig sind, durch den Wettstreit und die mannigfaltigen Arbeiten der verschiedenen Nationen zu offenbaren und ihre Bestimmung reicher zu erfüllen. Das Wachsthum und die Entfaltung der Nationen bildet daher einen starken Hebel der Weltgeschichte und gehört sicher zu den Grundlinien des göttlichen Weltplans. Der Begriff der Nation läszt sich daher so bestimmen: Nation ist die erblich gewordene Geistes-, Gemüths- und Rassegemeinschaft von Menschenmassen der ver- schiedenen Berufszweige und Gesellschaftsschichten, welche auch abgesehen von dem Statsverband als culturverwandte Stammesgenossenschaft vorzüglich in der Sprache, den Sitten, der Cultur sich verbunden fühlt und von den übrigen Massen als Fremden sich unterscheidet. Die Grenzen einer Nation sind veränderlich und beweg- lich. Sie kann fortwährend wachsen und sich ausbreiten, wenn es ihr gelingt, ihre Sprache und ihre Sitte, ihre Cultur auf fremde Massen auszudehnen und dieselben dadurch zu assimiliren. Sie kann abnehmen, zusammenschrumpfen und ganz aussterben, wenn eine fremde Cultur siegreich wider sie vorgeht und ihre bisherigen Glieder für sich einnimmt und

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/114>, abgerufen am 26.11.2024.