facher Beziehung durch die Geschichte widerlegt. Die römischen Patricier waren unter sich durch Connubium verbunden, die Plebejer ebenso. Aber weder jene noch diese waren für sich allein das römische Volk; und beide waren in älterer Zeit nicht durch Connubium mit einander ver- bunden, und doch bestand das römische Volk aus ihrer Vereinigung. Die germanischen Völker waren aus Ständen verbunden, von welchen jeder nur in seinem Innern unter seines Gleichen die Ehegenossenschaft zuliesz. In neuerer Zeit endlich besteht überall Ehegenossenschaft und Familienverbindung auch unter verschiedenen Nationen, ohne dasz daraus eine neue Nation entsteht.
3. Mancini (Della nazionalita come fondamento del Diritto delle Genti Napoli 1873. S. 37) erklärt die "Nationalität" ebenso als eine "natürliche Genossenschaft von Menschen, welche durch die Einheit ihrer Wohnsitze (des Landes), durch ihre Abstammung, ihre Sitten und ihre Sprache zu einer Lebensgemeinschaft geeinigt sind und das Bewusztsein dieser Gemeinschaft haben." Aber wenn er mit Recht in der Nationalität die natürliche Anlage zur Statenbildung erkennt, so tritt in seiner Lehre doch der Unterschied zwischen Nation und Volk nicht scharf genug her- vor, und ist er geneigt, schon die Nation als Rechtsperson zu betrachten, was sie nicht ist, und im günstigsten Fall erst werden kann, wenn sie die statliche Organisation erlangt hat.
Drittes Capitel. Nationale Rechte.
Es ist ein Fortschritt der Civilisation, dasz wir anfangen, von nationalen Rechten zu sprechen und Achtung für dieselben zu fordern. Da die Nationen Theile der Menschheit und das Product eines groszen welthistorischen Entwicklungsprocesses sind, so sollen sie auch in ihrem Bestande geachtet und ge- schützt werden. Das erste und natürlichste Grundrecht ist allezeit die menschliche Existenz. Welche menschliche Existenz aber hätte ein besseres Recht von Natur als die des nationalen Gemeingeistes? Sie ist ja zugleich die Unterlage auch der individuellen Existenz und eine Grundbedingung der Entwicklung der Menschheit.
Drittes Capitel. Nationale Rechte.
facher Beziehung durch die Geschichte widerlegt. Die römischen Patricier waren unter sich durch Connubium verbunden, die Plebejer ebenso. Aber weder jene noch diese waren für sich allein das römische Volk; und beide waren in älterer Zeit nicht durch Connubium mit einander ver- bunden, und doch bestand das römische Volk aus ihrer Vereinigung. Die germanischen Völker waren aus Ständen verbunden, von welchen jeder nur in seinem Innern unter seines Gleichen die Ehegenossenschaft zuliesz. In neuerer Zeit endlich besteht überall Ehegenossenschaft und Familienverbindung auch unter verschiedenen Nationen, ohne dasz daraus eine neue Nation entsteht.
3. Mancini (Della nazionalità come fondamento del Diritto delle Genti Napoli 1873. S. 37) erklärt die „Nationalität“ ebenso als eine „natürliche Genossenschaft von Menschen, welche durch die Einheit ihrer Wohnsitze (des Landes), durch ihre Abstammung, ihre Sitten und ihre Sprache zu einer Lebensgemeinschaft geeinigt sind und das Bewusztsein dieser Gemeinschaft haben.“ Aber wenn er mit Recht in der Nationalität die natürliche Anlage zur Statenbildung erkennt, so tritt in seiner Lehre doch der Unterschied zwischen Nation und Volk nicht scharf genug her- vor, und ist er geneigt, schon die Nation als Rechtsperson zu betrachten, was sie nicht ist, und im günstigsten Fall erst werden kann, wenn sie die statliche Organisation erlangt hat.
Drittes Capitel. Nationale Rechte.
Es ist ein Fortschritt der Civilisation, dasz wir anfangen, von nationalen Rechten zu sprechen und Achtung für dieselben zu fordern. Da die Nationen Theile der Menschheit und das Product eines groszen welthistorischen Entwicklungsprocesses sind, so sollen sie auch in ihrem Bestande geachtet und ge- schützt werden. Das erste und natürlichste Grundrecht ist allezeit die menschliche Existenz. Welche menschliche Existenz aber hätte ein besseres Recht von Natur als die des nationalen Gemeingeistes? Sie ist ja zugleich die Unterlage auch der individuellen Existenz und eine Grundbedingung der Entwicklung der Menschheit.
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Drittes Capitel. Nationale Rechte.
facher Beziehung durch die Geschichte widerlegt. Die römischen Patricier
waren unter sich durch Connubium verbunden, die Plebejer ebenso. Aber
weder jene noch diese waren für sich allein das römische Volk; und
beide waren in älterer Zeit nicht durch Connubium mit einander ver-
bunden, und doch bestand das römische Volk aus ihrer Vereinigung.
Die germanischen Völker waren aus Ständen verbunden, von welchen
jeder nur in seinem Innern unter seines Gleichen die Ehegenossenschaft
zuliesz. In neuerer Zeit endlich besteht überall Ehegenossenschaft und
Familienverbindung auch unter verschiedenen Nationen, ohne dasz daraus
eine neue Nation entsteht.
3. Mancini (Della nazionalità come fondamento del Diritto delle
Genti Napoli 1873. S. 37) erklärt die „Nationalität“ ebenso als eine
„natürliche Genossenschaft von Menschen, welche durch die Einheit ihrer
Wohnsitze (des Landes), durch ihre Abstammung, ihre Sitten und ihre
Sprache zu einer Lebensgemeinschaft geeinigt sind und das Bewusztsein
dieser Gemeinschaft haben.“ Aber wenn er mit Recht in der Nationalität
die natürliche Anlage zur Statenbildung erkennt, so tritt in seiner Lehre
doch der Unterschied zwischen Nation und Volk nicht scharf genug her-
vor, und ist er geneigt, schon die Nation als Rechtsperson zu betrachten,
was sie nicht ist, und im günstigsten Fall erst werden kann, wenn sie
die statliche Organisation erlangt hat.
Drittes Capitel.
Nationale Rechte.
Es ist ein Fortschritt der Civilisation, dasz wir anfangen,
von nationalen Rechten zu sprechen und Achtung für dieselben
zu fordern. Da die Nationen Theile der Menschheit und das
Product eines groszen welthistorischen Entwicklungsprocesses
sind, so sollen sie auch in ihrem Bestande geachtet und ge-
schützt werden. Das erste und natürlichste Grundrecht ist
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/117>, abgerufen am 26.11.2024.
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