und lebhafte Theilnahme. Die Gesellschaft ist nicht in dem Grade materiell und egoistisch gesinnt, als die Hinweisung auf den Vermögenserwerb es darstellt; sie hat auch ein ideales und ein gemeinnütziges Streben in sich. Man braucht nur an die unzähligen Anstalten für Arme, Kranke, für Kunst und Wissenschaft zu erinnern, welche freiwillig von der Ge- sellschaft gegründet und reichlich ausgestattet worden sind, ohne alle Nöthigung des States, um diese Wahrheit thatsäch- lich bewährt zu finden.
Sechstes Capitel. IV. Die Stämme.
Wie die Rassen der Menschheit in verschiedene Nationen zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver- wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher auch in der Sprache, in den Sitten, im Rechte sichtbar. Aber die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören, verstehen sich nicht mehr, sie sind einander fremd geworden. Dagegen die verschiedenen Stämme Einer Nation fühlen sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens- gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der gleichen Nationalität tritt zwar in den Stämmen auch die Beson- derheit und Verschiedenheit der Stämme entgegen und scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen ge- hört. Aber die nationale Sprache, welcher das Ohr aller Stämme sich öffnet, hält das Gefühl der Volkseinheit und der Verwandtschaft wach. In den Dialekten zeigt sich beides, die Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie verhalten sich zur Sprache, wie die particulären Stammes- rechte zum gemeinen Volksrecht.
Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz
Sechstes Capitel. IV. Die Stämme.
und lebhafte Theilnahme. Die Gesellschaft ist nicht in dem Grade materiell und egoistisch gesinnt, als die Hinweisung auf den Vermögenserwerb es darstellt; sie hat auch ein ideales und ein gemeinnütziges Streben in sich. Man braucht nur an die unzähligen Anstalten für Arme, Kranke, für Kunst und Wissenschaft zu erinnern, welche freiwillig von der Ge- sellschaft gegründet und reichlich ausgestattet worden sind, ohne alle Nöthigung des States, um diese Wahrheit thatsäch- lich bewährt zu finden.
Sechstes Capitel. IV. Die Stämme.
Wie die Rassen der Menschheit in verschiedene Nationen zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver- wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher auch in der Sprache, in den Sitten, im Rechte sichtbar. Aber die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören, verstehen sich nicht mehr, sie sind einander fremd geworden. Dagegen die verschiedenen Stämme Einer Nation fühlen sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens- gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der gleichen Nationalität tritt zwar in den Stämmen auch die Beson- derheit und Verschiedenheit der Stämme entgegen und scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen ge- hört. Aber die nationale Sprache, welcher das Ohr aller Stämme sich öffnet, hält das Gefühl der Volkseinheit und der Verwandtschaft wach. In den Dialekten zeigt sich beides, die Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie verhalten sich zur Sprache, wie die particulären Stammes- rechte zum gemeinen Volksrecht.
Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0139"n="121"/><fwplace="top"type="header">Sechstes Capitel. IV. Die Stämme.</fw><lb/>
und lebhafte Theilnahme. Die Gesellschaft ist nicht in dem<lb/>
Grade materiell und egoistisch gesinnt, als die Hinweisung<lb/>
auf den Vermögenserwerb es darstellt; sie hat auch ein ideales<lb/>
und ein gemeinnütziges Streben in sich. Man braucht nur<lb/>
an die unzähligen Anstalten für Arme, Kranke, für Kunst<lb/>
und Wissenschaft zu erinnern, welche freiwillig von der Ge-<lb/>
sellschaft gegründet und reichlich ausgestattet worden sind,<lb/>
ohne alle Nöthigung des States, um diese Wahrheit thatsäch-<lb/>
lich bewährt zu finden.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>Sechstes Capitel.<lb/><hirendition="#b">IV. Die Stämme.</hi></head><lb/><p>Wie die Rassen der Menschheit in verschiedene Nationen<lb/>
zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver-<lb/>
wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher<lb/>
auch in der Sprache, in den Sitten, im Rechte sichtbar. Aber<lb/>
die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören,<lb/>
verstehen sich nicht mehr, sie sind einander <hirendition="#g">fremd</hi> geworden.<lb/>
Dagegen die <hirendition="#g">verschiedenen Stämme</hi> Einer Nation fühlen<lb/>
sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens-<lb/>
gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der <hirendition="#g">gleichen<lb/>
Nationalität</hi> tritt zwar in den Stämmen auch die <hirendition="#g">Beson-<lb/>
derheit</hi> und <hirendition="#g">Verschiedenheit der Stämme</hi> entgegen<lb/>
und scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen ge-<lb/>
hört. Aber die nationale Sprache, welcher das Ohr aller<lb/>
Stämme sich öffnet, hält das Gefühl der <hirendition="#g">Volkseinheit</hi> und<lb/>
der <hirendition="#g">Verwandtschaft</hi> wach. In den Dialekten zeigt sich<lb/>
beides, die Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie<lb/>
verhalten sich zur Sprache, wie die particulären Stammes-<lb/>
rechte zum gemeinen Volksrecht.</p><lb/><p>Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[121/0139]
Sechstes Capitel. IV. Die Stämme.
und lebhafte Theilnahme. Die Gesellschaft ist nicht in dem
Grade materiell und egoistisch gesinnt, als die Hinweisung
auf den Vermögenserwerb es darstellt; sie hat auch ein ideales
und ein gemeinnütziges Streben in sich. Man braucht nur
an die unzähligen Anstalten für Arme, Kranke, für Kunst
und Wissenschaft zu erinnern, welche freiwillig von der Ge-
sellschaft gegründet und reichlich ausgestattet worden sind,
ohne alle Nöthigung des States, um diese Wahrheit thatsäch-
lich bewährt zu finden.
Sechstes Capitel.
IV. Die Stämme.
Wie die Rassen der Menschheit in verschiedene Nationen
zerfallen, so theilen sich die Nationen in Stämme. Die Ver-
wandtschaft der Nationen wird zwar dem schärferen Forscher
auch in der Sprache, in den Sitten, im Rechte sichtbar. Aber
die Nationen selbst, die zu derselben Menschenrasse gehören,
verstehen sich nicht mehr, sie sind einander fremd geworden.
Dagegen die verschiedenen Stämme Einer Nation fühlen
sich durch die gemeinsame Sprache und Sitte zu einer Wesens-
gemeinschaft verbunden. Dem Bewusztsein der gleichen
Nationalität tritt zwar in den Stämmen auch die Beson-
derheit und Verschiedenheit der Stämme entgegen
und scheidet wieder, was in weiterem Kreise zusammen ge-
hört. Aber die nationale Sprache, welcher das Ohr aller
Stämme sich öffnet, hält das Gefühl der Volkseinheit und
der Verwandtschaft wach. In den Dialekten zeigt sich
beides, die Volkseinheit und die Stammesverschiedenheit. Sie
verhalten sich zur Sprache, wie die particulären Stammes-
rechte zum gemeinen Volksrecht.
Die Stämme sind, wie die Nationen selbst, ein Erzeugnisz
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/139>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.