Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.

3. Selbst die Form der Eingehung der Ehe ist nicht
gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist, die Innigkeit
und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und
zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu-
ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product
einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt-römische
Grundsatsz "consensus facit nuptias" hat daher seine bedenk-
liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die
Ehe ein blosz conventionelles Verhältnisz sei, und man
kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine
religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker
auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger
noch ist die Rechtssicherheit der Familie, welche sich
mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die
öffentliche, urkundlich beglaubigte Form befriedigt
wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge-
nannte Civilform vollständig gewahrt. Wäre nicht die
kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht
worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe-
schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den
Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu
machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der
kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche
und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der
heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger-
lichen Form hervorgerufen.

Wir haben nun in der modernen Rechtsbildung eine
zweifache Form in Uebung: 1) die für das Rechtsinstitut der

Eph. 5, 22.: "Die Weiber seien unterthan ihren Männern." Sachsen-
spiegel I. 45. §. 1: "Al ne si en man sime wive nicht evenburdich, he
is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht,
swenne se in sin bedde gat." Code Napoleon 213.: "Le mari doit pro-
tection a sa femme, la femme obeissance a son mari." Oesterr. Gesetz-
buch Art. 91: "Der Mann ist das Haupt der Familie." Züricherisches
Gesetzbuch §. 127: "Der Ehemann ist das Haupt der Ehe."
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.

3. Selbst die Form der Eingehung der Ehe ist nicht
gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist, die Innigkeit
und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und
zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu-
ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product
einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt-römische
Grundsatsz „consensus facit nuptias“ hat daher seine bedenk-
liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die
Ehe ein blosz conventionelles Verhältnisz sei, und man
kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine
religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker
auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger
noch ist die Rechtssicherheit der Familie, welche sich
mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die
öffentliche, urkundlich beglaubigte Form befriedigt
wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge-
nannte Civilform vollständig gewahrt. Wäre nicht die
kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht
worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe-
schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den
Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu
machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der
kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche
und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der
heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger-
lichen Form hervorgerufen.

Wir haben nun in der modernen Rechtsbildung eine
zweifache Form in Uebung: 1) die für das Rechtsinstitut der

Eph. 5, 22.: „Die Weiber seien unterthan ihren Männern.“ Sachsen-
spiegel I. 45. §. 1: „Al ne si en man sime wive nicht evenburdich, he
is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht,
swenne se in sin bedde gat.“ Code Napoléon 213.: „Le mari doit pro-
tection à sa femme, la femme obéissance à son mari.“ Oesterr. Gesetz-
buch Art. 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie.“ Züricherisches
Gesetzbuch §. 127: „Der Ehemann ist das Haupt der Ehe.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0240" n="222"/>
          <fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.</fw><lb/>
          <p>3. Selbst die <hi rendition="#g">Form der Eingehung</hi> der Ehe ist nicht<lb/>
gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist, die Innigkeit<lb/>
und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und<lb/>
zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu-<lb/>
ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product<lb/>
einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt-römische<lb/>
Grundsatsz &#x201E;consensus facit nuptias&#x201C; hat daher seine bedenk-<lb/>
liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die<lb/>
Ehe ein <hi rendition="#g">blosz conventionelles</hi> Verhältnisz sei, und man<lb/>
kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine<lb/>
religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker<lb/>
auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger<lb/>
noch ist die <hi rendition="#g">Rechtssicherheit</hi> der Familie, welche sich<lb/>
mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die<lb/><hi rendition="#g">öffentliche</hi>, <hi rendition="#g">urkundlich beglaubigte</hi> Form befriedigt<lb/>
wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge-<lb/>
nannte <hi rendition="#g">Civilform</hi> vollständig gewahrt. Wäre nicht die<lb/>
kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht<lb/>
worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe-<lb/>
schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den<lb/>
Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu<lb/>
machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der<lb/>
kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche<lb/>
und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der<lb/>
heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger-<lb/>
lichen Form hervorgerufen.</p><lb/>
          <p>Wir haben nun in der modernen Rechtsbildung eine<lb/>
zweifache Form in Uebung: 1) die für das Rechtsinstitut der<lb/><note xml:id="note-0240" prev="#note-0239" place="foot" n="7">Eph. 5, 22.: &#x201E;Die Weiber seien unterthan ihren Männern.&#x201C; <hi rendition="#g">Sachsen-</hi><lb/>
spiegel I. 45. §. 1: &#x201E;Al ne si en man sime wive nicht evenburdich, he<lb/>
is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht,<lb/>
swenne se in sin bedde gat.&#x201C; <hi rendition="#i">Code Napoléon</hi> 213.: &#x201E;Le mari doit pro-<lb/>
tection à sa femme, la femme obéissance à son mari.&#x201C; <hi rendition="#g">Oesterr</hi>. Gesetz-<lb/>
buch Art. 91: &#x201E;Der Mann ist das Haupt der Familie.&#x201C; <hi rendition="#g">Züricherisches</hi><lb/>
Gesetzbuch §. 127: &#x201E;Der Ehemann ist das Haupt der Ehe.&#x201C;</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0240] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur. 3. Selbst die Form der Eingehung der Ehe ist nicht gleichgültig. Eine Form, welche geeignet ist, die Innigkeit und Heiligkeit des ehelichen Verhältnisses darzustellen und zum Bewusztsein zu bringen, ist an sich einer andern vorzu- ziehen, welche die Ehe lediglich als ein willkürliches Product einer bloszen Uebereinkunft bezeichnet. Der alt-römische Grundsatsz „consensus facit nuptias“ hat daher seine bedenk- liche Seite, insofern er zu der Vorstellung verleitet, dasz die Ehe ein blosz conventionelles Verhältnisz sei, und man kann es nicht tadeln, wenn die Sitte mancher Nationen eine religiöse Feier verlangt und die Uebung christlicher Völker auf die kirchliche Trauung einen Werth legt. Aber wichtiger noch ist die Rechtssicherheit der Familie, welche sich mit der heimlichen Ehe nicht verträgt, und nur durch die öffentliche, urkundlich beglaubigte Form befriedigt wird. Diese Interessen des Rechts werden durch die soge- nannte Civilform vollständig gewahrt. Wäre nicht die kirchliche Form der Trauung von der Geistlichkeit miszbraucht worden, um die vom State anerkannte Freiheit der Ehe- schlieszung zu beeinträchtigen und die Gesetzgebung von den Ansichten der Kirche in ungebührlicher Weise abhängig zu machen, so hätte sich auch der moderne Stat eher bei der kirchlichen Form beruhigen können. Aber jene Miszbräuche und die Gegensätze der religiösen Meinungen innerhalb der heutigen Bevölkerung haben das Bedürfnisz einer rein bürger- lichen Form hervorgerufen. Wir haben nun in der modernen Rechtsbildung eine zweifache Form in Uebung: 1) die für das Rechtsinstitut der 7 7 Eph. 5, 22.: „Die Weiber seien unterthan ihren Männern.“ Sachsen- spiegel I. 45. §. 1: „Al ne si en man sime wive nicht evenburdich, he is doch ire vormünde, unde se is sin genotinne, unde trit in sin recht, swenne se in sin bedde gat.“ Code Napoléon 213.: „Le mari doit pro- tection à sa femme, la femme obéissance à son mari.“ Oesterr. Gesetz- buch Art. 91: „Der Mann ist das Haupt der Familie.“ Züricherisches Gesetzbuch §. 127: „Der Ehemann ist das Haupt der Ehe.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/240
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/240>, abgerufen am 23.11.2024.