Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
schen Reiches von 1871 und die spanische Verfassung von 1868. Auch die Vereinigten Staten von Nordamerika streben gegenwärtig dieselbe Ausdehnung des Stimmrechts auf Jedermann an. Sie entspricht offenbar der demokrati- schen Neigung unseres Zeitalters.
5. Das Statsbürgerrecht wird überdem in einzelnen Staten von einem bestimmten Masze des Vermögens ab- hängig gemacht. Bei der Vertheilung der Stimmrechte kann das Vermögen gar wohl als ein wichtiger Factor in Betracht gezogen werden; aber es widerspricht der Statsidee, dasz ein Mann, welcher moralisch und geistig in jeder Weise befähigt und berufen ist, an dem politischen Leben des Volks Theil zu nehmen, und welcher auch als Privatmann völlig unabhängig zu handeln gewohnt ist, blosz darum von dem Statsbürgerrechte ganz ausgeschlossen bleiben soll, weil er kein oder nicht das geforderte Vermögen besitzt. Wird dabei nicht blosz das Grund- oder überhaupt das Capitalvermögen, sondern auch das Einkommen und der Erwerb in Anschlag gebracht, und das Masz so niedrig angesetzt als dasselbe für eine ganz bescheidene Existenz eines Menschen unentbehrlich ist, dann freilich ist gegen dieses Requisit nicht viel zu haben. Dann fällt es dem Effecte nach so ziemlich mit dem vorher erörterten der Selbständigkeit zusammen. Es wird dann diese nach dem Vermögen beurtheilt. Die Bestimmung mancher Verfassungen, wie z. B. der nordamerikani- schen, der bayerischen von 1848, theilweise auch der österreichischen und der preuszischen, welche das politische Stimmrecht von der Bezahlung directer Statssteuern abhängig machen, hat eine ähnliche Bedeutung.
6. In den christlichen Staten wurde bis auf die neueste Zeit herab auch das Bekenntnisz der christlichen Re- ligion gefordert. Anhänger einer andern, wenn auch gedul- deten Religion, z. B. Juden oder Muhammedaner, waren somit von dem Statsbürgerrechte ausgeschlossen. Während des
Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
schen Reiches von 1871 und die spanische Verfassung von 1868. Auch die Vereinigten Staten von Nordamerika streben gegenwärtig dieselbe Ausdehnung des Stimmrechts auf Jedermann an. Sie entspricht offenbar der demokrati- schen Neigung unseres Zeitalters.
5. Das Statsbürgerrecht wird überdem in einzelnen Staten von einem bestimmten Masze des Vermögens ab- hängig gemacht. Bei der Vertheilung der Stimmrechte kann das Vermögen gar wohl als ein wichtiger Factor in Betracht gezogen werden; aber es widerspricht der Statsidee, dasz ein Mann, welcher moralisch und geistig in jeder Weise befähigt und berufen ist, an dem politischen Leben des Volks Theil zu nehmen, und welcher auch als Privatmann völlig unabhängig zu handeln gewohnt ist, blosz darum von dem Statsbürgerrechte ganz ausgeschlossen bleiben soll, weil er kein oder nicht das geforderte Vermögen besitzt. Wird dabei nicht blosz das Grund- oder überhaupt das Capitalvermögen, sondern auch das Einkommen und der Erwerb in Anschlag gebracht, und das Masz so niedrig angesetzt als dasselbe für eine ganz bescheidene Existenz eines Menschen unentbehrlich ist, dann freilich ist gegen dieses Requisit nicht viel zu haben. Dann fällt es dem Effecte nach so ziemlich mit dem vorher erörterten der Selbständigkeit zusammen. Es wird dann diese nach dem Vermögen beurtheilt. Die Bestimmung mancher Verfassungen, wie z. B. der nordamerikani- schen, der bayerischen von 1848, theilweise auch der österreichischen und der preuszischen, welche das politische Stimmrecht von der Bezahlung directer Statssteuern abhängig machen, hat eine ähnliche Bedeutung.
6. In den christlichen Staten wurde bis auf die neueste Zeit herab auch das Bekenntnisz der christlichen Re- ligion gefordert. Anhänger einer andern, wenn auch gedul- deten Religion, z. B. Juden oder Muhammedaner, waren somit von dem Statsbürgerrechte ausgeschlossen. Während des
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Zweiundzwanzigstes Capitel. Verhältnisz des Stats etc. 2. Statsbürger etc.
schen Reiches von 1871 und die spanische Verfassung
von 1868. Auch die Vereinigten Staten von Nordamerika
streben gegenwärtig dieselbe Ausdehnung des Stimmrechts
auf Jedermann an. Sie entspricht offenbar der demokrati-
schen Neigung unseres Zeitalters.
5. Das Statsbürgerrecht wird überdem in einzelnen
Staten von einem bestimmten Masze des Vermögens ab-
hängig gemacht. Bei der Vertheilung der Stimmrechte
kann das Vermögen gar wohl als ein wichtiger Factor in
Betracht gezogen werden; aber es widerspricht der Statsidee,
dasz ein Mann, welcher moralisch und geistig in jeder Weise
befähigt und berufen ist, an dem politischen Leben des Volks
Theil zu nehmen, und welcher auch als Privatmann völlig
unabhängig zu handeln gewohnt ist, blosz darum von dem
Statsbürgerrechte ganz ausgeschlossen bleiben soll, weil er
kein oder nicht das geforderte Vermögen besitzt. Wird dabei
nicht blosz das Grund- oder überhaupt das Capitalvermögen,
sondern auch das Einkommen und der Erwerb in Anschlag
gebracht, und das Masz so niedrig angesetzt als dasselbe für
eine ganz bescheidene Existenz eines Menschen unentbehrlich
ist, dann freilich ist gegen dieses Requisit nicht viel zu
haben. Dann fällt es dem Effecte nach so ziemlich mit dem
vorher erörterten der Selbständigkeit zusammen. Es wird
dann diese nach dem Vermögen beurtheilt. Die Bestimmung
mancher Verfassungen, wie z. B. der nordamerikani-
schen, der bayerischen von 1848, theilweise auch der
österreichischen und der preuszischen, welche das
politische Stimmrecht von der Bezahlung directer Statssteuern
abhängig machen, hat eine ähnliche Bedeutung.
6. In den christlichen Staten wurde bis auf die neueste
Zeit herab auch das Bekenntnisz der christlichen Re-
ligion gefordert. Anhänger einer andern, wenn auch gedul-
deten Religion, z. B. Juden oder Muhammedaner, waren somit
von dem Statsbürgerrechte ausgeschlossen. Während des
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/267>, abgerufen am 22.11.2024.
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