Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Menschen und auf den Stat war aber viel früher, insbeson-
dere schon von den Hellenen beachtet worden.

Die Wahrnehmung, dasz die ältesten groszartigen Staten-
bildungen in Stromgebieten stattfinden -- wir erinnern
nur an das Fünfstromland und an den oberen Ganges in In-
dien, an den Nil in Aegypten, an den Tigris und Euphrat für
die westasiatischen Reiche, an den Pei-ho in China -- läszt
schlieszen, dasz das Leben an einem groszen Strom für die
frühe Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und des
menschlichen Selbstbewusztseins vorzugsweise günstig sei.
Indem der Mensch lernt, das Wasser sich dienstbar zu
machen, indem er Schiffe und Kanäle baut, gewinnt er
Selbstvertrauen und vermehrt seinen Besitz, und indem er
sich von der Strömung tragen und treiben läszt, entwickelt er
die Lust zum Abenteuer und zum Handel.

Aus ähnlichen Gründen erwerben auch die Küsten-
länder
, am Meeresstrande, und die Inseln eine frühzeitige
Cultur. Wenn Hellas und Italien in der classischen Periode
voraus gegangen sind in Europa, wenn von Spanien und
Portugal aus die transatlantische Welt zuerst in Besitz ge-
nommen worden ist, wenn Holland und England früher als
der grosze europäische Continent freie Volksstaten hervor-
gebracht haben, so bildet ihre Lage am Meere sicher einen
Factor zu dieser Frühreife. Die Macht des Meeres ist frei-
lich gröszer als die des Stromes und es kostet den Menschen
gröszere Anstrengung und längere Arbeit, um auch das Meer
sich nützlich zu machen.

Die Gebirgsländer sind ferner ausgezeichnet durch
ihre mächtige Wirkung auf das Gemüth und den Charakter
der Menschen. Schon der Anblick der herrlichen und man-
nigfaltigen Gebirgsnatur wie des gewaltigen und weiten Meeres
erhebt und stählt die Menschenbrust. Die Gebirgsbewohner
sind genöthigt, ihre persönlichen Kräfte täglich anzuspornen
und zu üben. In Folge dessen wächst ihre Stärke und sie

Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
Menschen und auf den Stat war aber viel früher, insbeson-
dere schon von den Hellenen beachtet worden.

Die Wahrnehmung, dasz die ältesten groszartigen Staten-
bildungen in Stromgebieten stattfinden — wir erinnern
nur an das Fünfstromland und an den oberen Ganges in In-
dien, an den Nil in Aegypten, an den Tigris und Euphrat für
die westasiatischen Reiche, an den Pei-ho in China — läszt
schlieszen, dasz das Leben an einem groszen Strom für die
frühe Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und des
menschlichen Selbstbewusztseins vorzugsweise günstig sei.
Indem der Mensch lernt, das Wasser sich dienstbar zu
machen, indem er Schiffe und Kanäle baut, gewinnt er
Selbstvertrauen und vermehrt seinen Besitz, und indem er
sich von der Strömung tragen und treiben läszt, entwickelt er
die Lust zum Abenteuer und zum Handel.

Aus ähnlichen Gründen erwerben auch die Küsten-
länder
, am Meeresstrande, und die Inseln eine frühzeitige
Cultur. Wenn Hellas und Italien in der classischen Periode
voraus gegangen sind in Europa, wenn von Spanien und
Portugal aus die transatlantische Welt zuerst in Besitz ge-
nommen worden ist, wenn Holland und England früher als
der grosze europäische Continent freie Volksstaten hervor-
gebracht haben, so bildet ihre Lage am Meere sicher einen
Factor zu dieser Frühreife. Die Macht des Meeres ist frei-
lich gröszer als die des Stromes und es kostet den Menschen
gröszere Anstrengung und längere Arbeit, um auch das Meer
sich nützlich zu machen.

Die Gebirgsländer sind ferner ausgezeichnet durch
ihre mächtige Wirkung auf das Gemüth und den Charakter
der Menschen. Schon der Anblick der herrlichen und man-
nigfaltigen Gebirgsnatur wie des gewaltigen und weiten Meeres
erhebt und stählt die Menschenbrust. Die Gebirgsbewohner
sind genöthigt, ihre persönlichen Kräfte täglich anzuspornen
und zu üben. In Folge dessen wächst ihre Stärke und sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0278" n="260"/><fw place="top" type="header">Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.</fw><lb/>
Menschen und auf den Stat war aber viel früher, insbeson-<lb/>
dere schon von den Hellenen beachtet worden.</p><lb/>
          <p>Die Wahrnehmung, dasz die ältesten groszartigen Staten-<lb/>
bildungen in <hi rendition="#g">Stromgebieten</hi> stattfinden &#x2014; wir erinnern<lb/>
nur an das Fünfstromland und an den oberen Ganges in In-<lb/>
dien, an den Nil in Aegypten, an den Tigris und Euphrat für<lb/>
die westasiatischen Reiche, an den Pei-ho in China &#x2014; läszt<lb/>
schlieszen, dasz das Leben an einem groszen Strom für die<lb/>
frühe Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und des<lb/>
menschlichen Selbstbewusztseins vorzugsweise günstig sei.<lb/>
Indem der Mensch lernt, das Wasser sich dienstbar zu<lb/>
machen, indem er Schiffe und Kanäle baut, gewinnt er<lb/>
Selbstvertrauen und vermehrt seinen Besitz, und indem er<lb/>
sich von der Strömung tragen und treiben läszt, entwickelt er<lb/>
die Lust zum Abenteuer und zum Handel.</p><lb/>
          <p>Aus ähnlichen Gründen erwerben auch die <hi rendition="#g">Küsten-<lb/>
länder</hi>, am Meeresstrande, und die <hi rendition="#g">Inseln</hi> eine frühzeitige<lb/>
Cultur. Wenn Hellas und Italien in der classischen Periode<lb/>
voraus gegangen sind in Europa, wenn von Spanien und<lb/>
Portugal aus die transatlantische Welt zuerst in Besitz ge-<lb/>
nommen worden ist, wenn Holland und England früher als<lb/>
der grosze europäische Continent freie Volksstaten hervor-<lb/>
gebracht haben, so bildet ihre Lage am Meere sicher einen<lb/>
Factor zu dieser Frühreife. Die Macht des Meeres ist frei-<lb/>
lich gröszer als die des Stromes und es kostet den Menschen<lb/>
gröszere Anstrengung und längere Arbeit, um auch das Meer<lb/>
sich nützlich zu machen.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#g">Gebirgsländer</hi> sind ferner ausgezeichnet durch<lb/>
ihre mächtige Wirkung auf das Gemüth und den Charakter<lb/>
der Menschen. Schon der Anblick der herrlichen und man-<lb/>
nigfaltigen Gebirgsnatur wie des gewaltigen und weiten Meeres<lb/>
erhebt und stählt die Menschenbrust. Die Gebirgsbewohner<lb/>
sind genöthigt, ihre persönlichen Kräfte täglich anzuspornen<lb/>
und zu üben. In Folge dessen wächst ihre Stärke und sie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0278] Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land. Menschen und auf den Stat war aber viel früher, insbeson- dere schon von den Hellenen beachtet worden. Die Wahrnehmung, dasz die ältesten groszartigen Staten- bildungen in Stromgebieten stattfinden — wir erinnern nur an das Fünfstromland und an den oberen Ganges in In- dien, an den Nil in Aegypten, an den Tigris und Euphrat für die westasiatischen Reiche, an den Pei-ho in China — läszt schlieszen, dasz das Leben an einem groszen Strom für die frühe Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und des menschlichen Selbstbewusztseins vorzugsweise günstig sei. Indem der Mensch lernt, das Wasser sich dienstbar zu machen, indem er Schiffe und Kanäle baut, gewinnt er Selbstvertrauen und vermehrt seinen Besitz, und indem er sich von der Strömung tragen und treiben läszt, entwickelt er die Lust zum Abenteuer und zum Handel. Aus ähnlichen Gründen erwerben auch die Küsten- länder, am Meeresstrande, und die Inseln eine frühzeitige Cultur. Wenn Hellas und Italien in der classischen Periode voraus gegangen sind in Europa, wenn von Spanien und Portugal aus die transatlantische Welt zuerst in Besitz ge- nommen worden ist, wenn Holland und England früher als der grosze europäische Continent freie Volksstaten hervor- gebracht haben, so bildet ihre Lage am Meere sicher einen Factor zu dieser Frühreife. Die Macht des Meeres ist frei- lich gröszer als die des Stromes und es kostet den Menschen gröszere Anstrengung und längere Arbeit, um auch das Meer sich nützlich zu machen. Die Gebirgsländer sind ferner ausgezeichnet durch ihre mächtige Wirkung auf das Gemüth und den Charakter der Menschen. Schon der Anblick der herrlichen und man- nigfaltigen Gebirgsnatur wie des gewaltigen und weiten Meeres erhebt und stählt die Menschenbrust. Die Gebirgsbewohner sind genöthigt, ihre persönlichen Kräfte täglich anzuspornen und zu üben. In Folge dessen wächst ihre Stärke und sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/278
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/278>, abgerufen am 22.11.2024.