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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. IV. Das Land.
geistigen und materiellen Lebensbedürfnissen des Volkes nicht
genügt. Das Wachsthum der Bevölkerung kann zur Coloni-
sation
den Anstosz geben, indem ein Theil derselben neue
Wohnsitze auszerhalb des bisherigen Statsgebietes aufsucht
oder fremde Gebiete besetzt werden, welche den Ueberflusz
der Bevölkerung aufnehmen. Oder es kann das entwickelte
Culturbedürfnisz oder Machtgefühl eine Erweiterung des Ge-
bietes verlangen und damit die Politik der Annexion und
Eroberung begründen. Dann entsteht die oft schwierige
Aufgabe, das natürliche Recht des eigenen Wachsthums und
der vollen Entwicklung mit den Rechten der andern Nationen
auf ihr Gebiet und den geschichtlichen Verhältnissen auszu-
gleichen.

Ebenso kann ein Gebiet mit der Zeit zu klein werden,
um gegenüber dem Wachsthum anderer Staten sich auf die
Dauer sicher zu fühlen, und es ergibt sich daraus eine Politik
der Verbündung mit andern Ländern oder der Anlehnung
oder Anschlieszung an einen andern mächtigeren Stat.

Aber auch das Gegentheil kommt vor. Das Gebiet kann
zu weit sein für die dünne Bevölkerung oder zu ausge-
dehnt
für die Neigung der Bewohner einer einzelnen Ge-
gend selbständig für sich zu sein. Im einen Fall erwacht
das Interesse, die Einwanderung zu begünstigen und
die Colonisation herbeizuziehen, im andern das Streben
nach Absonderung der Theile des bisher verbundenen
Statsgebiets und der Spaltung und Zerbröckelung der
Reiche.

Durchaus entgegen gesetzt ist die Tendenz des modernen
Zeitalters im Gegensatze zu der des Mittelalters. Das Mittel-
alter begünstigte die Entstehung kleiner Staten; die neue
Zeit hat die Neigung zur Bildung groszer Statsgebiete.
Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, anfangs auch die
britischen Inseln und selbst die slavischen Länder waren
während des Mittelalters in eine grosze Anzahl kleiner

Viertes Capitel. IV. Das Land.
geistigen und materiellen Lebensbedürfnissen des Volkes nicht
genügt. Das Wachsthum der Bevölkerung kann zur Coloni-
sation
den Anstosz geben, indem ein Theil derselben neue
Wohnsitze auszerhalb des bisherigen Statsgebietes aufsucht
oder fremde Gebiete besetzt werden, welche den Ueberflusz
der Bevölkerung aufnehmen. Oder es kann das entwickelte
Culturbedürfnisz oder Machtgefühl eine Erweiterung des Ge-
bietes verlangen und damit die Politik der Annexion und
Eroberung begründen. Dann entsteht die oft schwierige
Aufgabe, das natürliche Recht des eigenen Wachsthums und
der vollen Entwicklung mit den Rechten der andern Nationen
auf ihr Gebiet und den geschichtlichen Verhältnissen auszu-
gleichen.

Ebenso kann ein Gebiet mit der Zeit zu klein werden,
um gegenüber dem Wachsthum anderer Staten sich auf die
Dauer sicher zu fühlen, und es ergibt sich daraus eine Politik
der Verbündung mit andern Ländern oder der Anlehnung
oder Anschlieszung an einen andern mächtigeren Stat.

Aber auch das Gegentheil kommt vor. Das Gebiet kann
zu weit sein für die dünne Bevölkerung oder zu ausge-
dehnt
für die Neigung der Bewohner einer einzelnen Ge-
gend selbständig für sich zu sein. Im einen Fall erwacht
das Interesse, die Einwanderung zu begünstigen und
die Colonisation herbeizuziehen, im andern das Streben
nach Absonderung der Theile des bisher verbundenen
Statsgebiets und der Spaltung und Zerbröckelung der
Reiche.

Durchaus entgegen gesetzt ist die Tendenz des modernen
Zeitalters im Gegensatze zu der des Mittelalters. Das Mittel-
alter begünstigte die Entstehung kleiner Staten; die neue
Zeit hat die Neigung zur Bildung groszer Statsgebiete.
Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, anfangs auch die
britischen Inseln und selbst die slavischen Länder waren
während des Mittelalters in eine grosze Anzahl kleiner

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[271/0289] Viertes Capitel. IV. Das Land. geistigen und materiellen Lebensbedürfnissen des Volkes nicht genügt. Das Wachsthum der Bevölkerung kann zur Coloni- sation den Anstosz geben, indem ein Theil derselben neue Wohnsitze auszerhalb des bisherigen Statsgebietes aufsucht oder fremde Gebiete besetzt werden, welche den Ueberflusz der Bevölkerung aufnehmen. Oder es kann das entwickelte Culturbedürfnisz oder Machtgefühl eine Erweiterung des Ge- bietes verlangen und damit die Politik der Annexion und Eroberung begründen. Dann entsteht die oft schwierige Aufgabe, das natürliche Recht des eigenen Wachsthums und der vollen Entwicklung mit den Rechten der andern Nationen auf ihr Gebiet und den geschichtlichen Verhältnissen auszu- gleichen. Ebenso kann ein Gebiet mit der Zeit zu klein werden, um gegenüber dem Wachsthum anderer Staten sich auf die Dauer sicher zu fühlen, und es ergibt sich daraus eine Politik der Verbündung mit andern Ländern oder der Anlehnung oder Anschlieszung an einen andern mächtigeren Stat. Aber auch das Gegentheil kommt vor. Das Gebiet kann zu weit sein für die dünne Bevölkerung oder zu ausge- dehnt für die Neigung der Bewohner einer einzelnen Ge- gend selbständig für sich zu sein. Im einen Fall erwacht das Interesse, die Einwanderung zu begünstigen und die Colonisation herbeizuziehen, im andern das Streben nach Absonderung der Theile des bisher verbundenen Statsgebiets und der Spaltung und Zerbröckelung der Reiche. Durchaus entgegen gesetzt ist die Tendenz des modernen Zeitalters im Gegensatze zu der des Mittelalters. Das Mittel- alter begünstigte die Entstehung kleiner Staten; die neue Zeit hat die Neigung zur Bildung groszer Statsgebiete. Italien, Frankreich, Deutschland, Spanien, anfangs auch die britischen Inseln und selbst die slavischen Länder waren während des Mittelalters in eine grosze Anzahl kleiner

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/289>, abgerufen am 22.11.2024.