Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Dieses Princip wird vollständig durch die Erwägung ge- rechtfertigt, dasz im Conflicte bloszer individueller Privat- rechte und allgemeiner öffentlicher Rechte den letztern der Vorzug, aber nicht in weiterem Umfange gebührt, als die Lösung des Conflictes es erheischt. Das öffentliche Interesse wird durch das Recht des States auf Abtretung, das indivi- duelle Interesse durch das Recht des Privaten auf volle Ent- schädigung gewahrt.
Die Ermittlung des öffentlichen Interesses im einzelnen Falle, d. h. die Beantwortung der Frage, ob ein öffent- liches Bedürfnisz die Abtretung erheische, gehört ihrer Natur nach dem öffentlichen Rechte an, und ist somit nicht von den Civilgerichten zu entscheiden, sondern von den Organen der eigentlichen Statsgewalt, sei es nun, dasz der Gesetzgeber selbst, wie in England und Nordame- rika, das Unternehmen für nöthig erklärt, oder dasz die Ver- waltungsbehörden, wie in Deutschland gewöhnlich, diese Com- petenz haben oder Verwaltungsgerichte darüber erkennen. Die leztere Verfahrungsweise ist im Princip richtiger; denn Sache der Regierung ist es, im einzelnen Falle das anzuord- nen, was das öffentliche Wohl erfordert, und in höherem Masze kommt auch die Fähigkeit ihr zu, die Zweckmäszig- keit der Mittel zu beurtheilen. Nur allerdings müssen die Formen des Verfahrens Garantien dafür bieten, dasz nicht blosze Willkür und Laune einen Eingriff in das Privatrecht veranlassen. 14
Das Recht auf Zwangsabtretung gebührt zunächst nur dem State, und für den engern Kreis der öffentlichen Gemeinde- interessen der Gemeinde, nicht aber Privatpersonen. Indessen kann der Stat, sowie er die Ausführung einzelner Unternehmungen in öffentlichem Interesse an Privatpersonen
14Bayerisches Gesetz v. 1837. Vgl. Treichler, über die Zwangs- abtretung in der Zeitschrift für deutsches Recht von Beseler, Reyscher und Wilda. Bd. XII. H. 1.
Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Dieses Princip wird vollständig durch die Erwägung ge- rechtfertigt, dasz im Conflicte bloszer individueller Privat- rechte und allgemeiner öffentlicher Rechte den letztern der Vorzug, aber nicht in weiterem Umfange gebührt, als die Lösung des Conflictes es erheischt. Das öffentliche Interesse wird durch das Recht des States auf Abtretung, das indivi- duelle Interesse durch das Recht des Privaten auf volle Ent- schädigung gewahrt.
Die Ermittlung des öffentlichen Interesses im einzelnen Falle, d. h. die Beantwortung der Frage, ob ein öffent- liches Bedürfnisz die Abtretung erheische, gehört ihrer Natur nach dem öffentlichen Rechte an, und ist somit nicht von den Civilgerichten zu entscheiden, sondern von den Organen der eigentlichen Statsgewalt, sei es nun, dasz der Gesetzgeber selbst, wie in England und Nordame- rika, das Unternehmen für nöthig erklärt, oder dasz die Ver- waltungsbehörden, wie in Deutschland gewöhnlich, diese Com- petenz haben oder Verwaltungsgerichte darüber erkennen. Die leztere Verfahrungsweise ist im Princip richtiger; denn Sache der Regierung ist es, im einzelnen Falle das anzuord- nen, was das öffentliche Wohl erfordert, und in höherem Masze kommt auch die Fähigkeit ihr zu, die Zweckmäszig- keit der Mittel zu beurtheilen. Nur allerdings müssen die Formen des Verfahrens Garantien dafür bieten, dasz nicht blosze Willkür und Laune einen Eingriff in das Privatrecht veranlassen. 14
Das Recht auf Zwangsabtretung gebührt zunächst nur dem State, und für den engern Kreis der öffentlichen Gemeinde- interessen der Gemeinde, nicht aber Privatpersonen. Indessen kann der Stat, sowie er die Ausführung einzelner Unternehmungen in öffentlichem Interesse an Privatpersonen
14Bayerisches Gesetz v. 1837. Vgl. Treichler, über die Zwangs- abtretung in der Zeitschrift für deutsches Recht von Beseler, Reyscher und Wilda. Bd. XII. H. 1.
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Siebentes Capitel. VII. Verhältnisz des Stats zum Privateigenthum.
Dieses Princip wird vollständig durch die Erwägung ge-
rechtfertigt, dasz im Conflicte bloszer individueller Privat-
rechte und allgemeiner öffentlicher Rechte den letztern der
Vorzug, aber nicht in weiterem Umfange gebührt, als die
Lösung des Conflictes es erheischt. Das öffentliche Interesse
wird durch das Recht des States auf Abtretung, das indivi-
duelle Interesse durch das Recht des Privaten auf volle Ent-
schädigung gewahrt.
Die Ermittlung des öffentlichen Interesses im einzelnen
Falle, d. h. die Beantwortung der Frage, ob ein öffent-
liches Bedürfnisz die Abtretung erheische, gehört
ihrer Natur nach dem öffentlichen Rechte an, und ist
somit nicht von den Civilgerichten zu entscheiden, sondern
von den Organen der eigentlichen Statsgewalt, sei es nun,
dasz der Gesetzgeber selbst, wie in England und Nordame-
rika, das Unternehmen für nöthig erklärt, oder dasz die Ver-
waltungsbehörden, wie in Deutschland gewöhnlich, diese Com-
petenz haben oder Verwaltungsgerichte darüber erkennen.
Die leztere Verfahrungsweise ist im Princip richtiger; denn
Sache der Regierung ist es, im einzelnen Falle das anzuord-
nen, was das öffentliche Wohl erfordert, und in höherem
Masze kommt auch die Fähigkeit ihr zu, die Zweckmäszig-
keit der Mittel zu beurtheilen. Nur allerdings müssen die
Formen des Verfahrens Garantien dafür bieten, dasz nicht
blosze Willkür und Laune einen Eingriff in das Privatrecht
veranlassen. 14
Das Recht auf Zwangsabtretung gebührt zunächst nur dem
State, und für den engern Kreis der öffentlichen Gemeinde-
interessen der Gemeinde, nicht aber Privatpersonen.
Indessen kann der Stat, sowie er die Ausführung einzelner
Unternehmungen in öffentlichem Interesse an Privatpersonen
14 Bayerisches Gesetz v. 1837. Vgl.
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Reyscher
und Wilda. Bd. XII. H. 1.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/313>, abgerufen am 22.11.2024.
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